Fontana Tagli Loch Schnitt Linie

Fontanas Schnitte als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 190 KB)

Fontanas Schnitte

in: Bild-Riss. Textile Öffnungen im ästhetischen Diskurs, hrsg. von Mateusz Kapustka, Textile Studies, Band 7, Edition Imorde, Emsdetten/Berlin, 2015, S. 25-38.

Kapitel 1: Fontanas Fund

„Meine eigentliche Entdeckung war das Loch und Schluss: Nach dieser Entdeckung kann ich auch beruhigt sterben … während ich vorher immer unbefriedigt war, es mir nie gelang … Meinen ganzen Versuchen – ‚Fontana blufft, der meint es nicht ernst‘ – lag diese innere Unruhe zugrunde, ich musste eine Form für etwas finden, was ich schon immer im Kopf hatte, bereits 1931-32, schon damals suchte ich nicht das Volumen, machte die Drahtskulpturen, da gab es schon Diskussionen mit Brancusi und Tristan Tzara … […]. Das dreidimensionale Bild: erste, zweite und dritte Dimension, Paolo Uccello, das Ideal der Perspektive … über die Perspektive hinausgehen … die Entdeckung des Kosmos ist eine neue Dimension, ist das Unendliche, und so habe ich diese Leinwand, die die Grundlage aller Kunst war, durchlöchert und die Dimension des Unendlichen geschaffen […]. Wer das verstehen will, versteht es, und sonst bleibt es eben ein Loch und Schluss.“

Durch die verwirrende Vielfalt an Materialien, Kunstformen und Gattungen, die Lucio Fontanas Œuvre umfasst, zieht sich eine Spur, die es im Rückblick plötzlich geordnet erscheinen lässt. Es erscheint als kohärente Abfolge, deren einzelne Realisierungen sich gleichwohl nicht vorhersehen ließen. Mit Beharrlichkeit verfolgt Fontana eine bildnerische und das Bild zugleich überschreitende Absicht, die er 1946 im Weißen Manifest als die Notwendigkeit beschreibt, Malerei und Bildhauerei, aber auch Dichtung und Musik in einer umfassenden Kunst aufzuheben, die „den Bedürfnissen des neuen Geistes entspricht“. Sein Ziel ist eine Kunst der Bewegtheit, die Raum und Zeit gleichermaßen umfasst, und deren erste Anzeichen er im Barock entdeckt, dessen Figuren sich „von der Fläche zu lösen und mit ihren Bewegungen in den Raum auszugreifen“ scheinen. Das ganze Œuvre hindurch versucht er, das Immaterielle im Materiellen zur Geltung zu bringen, das ‚Äußere‘ ins ‚Innere‘ des Darstellungsbereichs einzuführen, ohne zu illusionistischen Mitteln zu greifen. Die Suche, die viele Nebenwege kennt, mündet 1949 in einen wortwörtlich durchschlagenden Fund: das Loch.

„Das Loch [so Fontana in einem anderen seiner zahlreichen späten Interviews] […] war gerade außerhalb der Dimension des Bildes. […] Ich habe nicht Löcher gemacht, um das Bild zu ruinieren – nein – ich habe Löcher gemacht, um etwas zu finden. […] Die anderen haben es nie begriffen. Sie sagten, ich zerschlitze Leinwände […]. Aber das stimmt nicht.“

Was genau aber hat Fontana gefunden? Die Frage möchte ich anhand von Fontanas umfangreichster und bekanntester Werkserie, den sogenannten Tagli, zu beantworten versuchen. Sie entsteht ab 1958 und wächst bis zum Tod des Künstlers 1968 auf weit über tausend Bilder an. Die Tagli haben jeweils zwei Komponenten: einen oder mehrere Schlitze sowie die meist monochrome, in einer großen Bandbreite von Farben gefasste Fläche des Bildträgers. Letztere stellt – vor dem Schnitt – einen unmarkierten Raum dar, vergleichbar einer leeren Bühne, auf der ein Körper agieren kann, oder der Stille, die den Tönen das Klingen erst ermöglicht. Die Reinheit dieser Leere verstärkt die Drastik des Schnitts. Dieser bringt die Doppelnatur der Leinwandfläche zum Vorschein, zugleich ein materieller Träger und der Erscheinungsort eines Abwesenden zu sein. Er erreicht dies, indem er beides im selben Zuge zerstört: sowohl den Illusionismus der traditionellen Malerei als auch den flachen Bildträger als das Kennzeichnen der Moderne.

Um dem näher zu kommen, was Fontana mit seinem Schnitt in die Leinwand ‚gefunden‘ hat, ist es hilfreich, ihn im Rahmen der neuzeitlichen Theorie des ‚disegno‘, der ‚Zeichnung‘, zu sehen. In der italienischen Kunsttheorie des 16. und 17. Jahrhunderts ist ‚disegno‘ der Name für die Form, in der die Kunst ihre Eigenleistung erbringt. Das Konzept des ‚disegno‘ tritt an die Stelle dessen, was die Scholastik ‚intentio‘ genannt hatte, und meint ein Konzept, das zwischen interner, vorab erfolgter Formfindung und nachträglicher externer Ausführung deutlich unterscheidet und doch beides in einem Begriff zusammenschließt. Als Formfindung und zugleich Formvollzug ist ‚disegno‘ ontologisch schwer zu fassen. Die Grenze eines Dings, das die Linie ebenso festhält wie erschafft, ist ein ‚Nichts‘, weder im Ding noch außerhalb des Dings. Vielmehr handelt es sich um das Treffen einer Unterscheidung: zwischen Körper und Nicht-Körper, diesseits und jenseits, innen und außen. Das Ziehen einer Linie bricht das raumzeitliche Kontinuum auf mit der Folge, dass es jetzt zwei voneinander unterschiedene Seiten gibt. Doch gerade indem die Linie nichts ist, was man der Natur selbst entnehmen kann, wird ‚disegno‘ im Zuge der neuzeitlichen Aufwertung der künstlerischen Tätigkeit zum entscheidenden Können des Künstlers. Das Verwandeln eines ontologischen Nichts in ein perfektionierbares Können eröffnet den Raum, in dem die Kunst sich selbst begründen kann – und zwar, wie es das ‚disegno‘-Konzept auszeichnet, zugleich als ein Finden und ein Machen.

Fontana nimmt diese Tradition auf: Wie die Gegenüberstellung seiner Schlitzgeste mit Picassos bilderöffnender Liniensetzung auf der leeren Leinwand zeigt, ist der Schnitt im Grunde nichts anderes als das Ziehen einer Linie. Raumeröffnend sind beide. Bereits die erste Linie, die auf einer Leinwand gezogen wird, zerstört aufgrund der Unterscheidungen, die sie trifft, deren Zweidimensionalität und erzeugt, als Einführung der ikonischen Differenz ins Bild, die Illusion der dritten Dimension. Im Unterschied zu Picasso trägt Fontana jedoch keinerlei Material auf, keine Farbe, keine Tinte, keinen Graphit. Vor allem aber bringt sein ‚Zeichnen‘, indem es die Bildfläche durchdringt, die von einer Linie getroffenen Unterscheidungen zum Einsturz. Innen und außen, hinten und vorne, realer Raum und imaginärer Raum fallen in eins. Sie berühren sich in der Öffnung des Schlitzes wie an einer ungreifbaren Naht. Picassos und Fontanas Gesten gleichen sich im Vollzug, jedoch nicht in ihren materiellen Folgen. Genau von diesem Unterschied handelt das erste Manifest der „Spazialisten“, zu deren Unterzeichner auch Fontana gehört: „Als Geste bleibt sie [die Kunst] ewig, aber als Material wird sie sterben.“

Die Bilder in dieser Perspektive zu sehen, bevorzugt den Akt des Schlitzens gegenüber dem Produkt, das dabei entsteht. Im Mittelpunkt steht dann weniger das, was Fontana dargestellt hat, so wie es häufig in der Literatur geschieht, wenn seine Schlitze z.B. als Darstellungen des Unendlichen beschrieben werden. Denn streng genommen zeigen sie nichts – auch nicht das Unendliche, das sich der Darstellung ohnehin entzieht. Der Schlitz hat seine Pointe vielmehr darin, die Repräsentationsleistung des Bildes zu liquidieren. Es gibt kein ‚Dahinter‘, das im Bild dargestellt und damit vergegenwärtigt wäre. Der Schlitz ist nichts – was etwas anderes ist als zu sagen, er sei die Darstellung des Nichts (oder des Unendlichen). Fontanas Kunstpraxis schlitzt nicht nur die Leinwand auf, sondern sprengt zugleich die Repräsentation. „Wenn ich ein Bild mit einem Schnitt mache“, so Fontana, „will ich kein Bild machen: ich öffne einen Raum, eine neue Dimension […].“

Während die Räumlichkeit eines repräsentierenden Bildes darin besteht, einen virtuellen Raum entstehen zu lassen, der sich jenseits der Bildfläche eröffnet, überführt Fontana die Darstellung von Räumlichkeit in deren performatives Erzeugen. Er ersetzt, nach einer kaum übersetzbaren Formulierung Alberto Oliverios, „represented spatiality“ durch „acted spatiality“. Diese raumschaffende Geste, die Fontana nach längerem Verharren vor der Leinwand mit der Präzision und Schnelligkeit eines chirurgischen Eingriffs vollzieht, in den Tagli in die Sichtbarkeit zu verlängern: das ist es, was Fontana ‚gefunden‘ hat.

Einleitung: Modernistische ‚flatness‘ und ihr Widerruf
Fontana Kapitel I: Fontanas Fund
Fontana Kapitel II: Der Schnitt als Schwelle
Kapitel III: Die zwei Ordnungen des Schnitts: ikonisch und performativ
Kapitel IV: Der Schnitt als Äußerung – und Fontanas rückseitige Notate
Kapitel V: Transzendenz und Immanenz des Unendlichen
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