Fontana Transzendenz Immanenz Unendliches Wiederholung

Fontanas Schnitte als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 190 KB)

Fontanas Schnitte

in: Bild-Riss. Textile Öffnungen im ästhetischen Diskurs, hrsg. von Mateusz Kapustka, Textile Studies, Band 7, Edition Imorde, Emsdetten/Berlin, 2015, S. 25-38.

Kapitel 5: Transzendenz und Immanenz des Unendlichen

Insbesondere die rückwärtigen Notate offenbart sich der schmale Grat, auf dem Fontanas Bildpraxis balanciert: Es ist der schmale Grat zwischen einer erhabenen Ästhetik des Nichts und der ernüchternden Tatsache, dass es sich um nichts anderes handelt als um durchlöcherte Leinwände. Wie das ausführliche Zitat, mit dem ich die Betrachtung der Tagli einleitete, verdeutlicht, ist sich Fontana dessen wohl bewusst: Wer in dem Schnitt die Dimension des Unendlichen erkennt, sieht sie – „und sonst bleibt es eben ein Loch und Schluss“. Die Fallhöhe zwischen der Beschwörung des Unendlichen und der bloßen Gegebenheit einer durchschnittenen Leinwand hängt nicht zuletzt mit Fontanas bildgeschichtlicher Stellung als modernistischem, nachmetaphysischem Künstler zusammen. Mittelalterliche oder frühneuzeitliche Inszenierungen von Schnitten und Öffnungen verweisen – wie die Beispiele von Heike Schlie in diesem Sammelband zeigen – auf christologische oder mariologische Ereignisse wie Empfängnis, Geburt oder Passion hin; insgesamt kreisen sie um das physisch-metaphysische Geschehen der Berührung von Irdisch-Materiellem und Göttlich-Immateriellem. Fontanas Schnitte indessen verweisen auf kein Transzendentes, ja noch nicht einmal auf etwas Außerbildliches, sondern lassen die inhärente Ambivalenz des Bildes selbst aufplatzen. Das Unendliche wird zu einer immanenten Größe. Es reformuliert sich als nicht stillzustellendes Unbestimmtes, das uns in der Schnitt-Öffnung begegnet. Denn was sich hier ereignet, ist nicht dingfest zu machen: faktisch nicht, da es ein Nichts ist, das sich öffnet, und systematisch nicht, da es sich begrifflich entzieht.

Fontanas widersprüchliche Verbindungen von Sein und Schein, Zerstörung und Schöpfung, Ende und Anfang, Geste und Form verwirklichen sich im Augenblick des Aktes, der die Leinwand öffnet. In diesem Augenblick berührt sich, was sich wechselseitig ausschließt, im Modus des ‚excluded middle‘. Doch jenseits dieses Augenblicks bestehen diese Gegensätze, deren Vereinigung Fontana sich zum künstlerischen Ziel setzte, weiter – mit der Folge, dass er den Akt des Löcherns und Schlitzens, einer Askese gleich, unausgesetzt wiederholte, insgesamt, wie der Werkkatalog für die Zeit von 1949 bis 1968 registriert, mehrere Tausend Mal.

Einleitung: Modernistische ‚flatness‘ und ihr Widerruf
Kapitel I: Fontanas Fund
Kapitel II: Der Schnitt als Schwelle
Kapitel III: Die zwei Ordnungen des Schnitts: ikonisch und performativ
Kapitel IV: Der Schnitt als Äußerung – und Fontanas rückseitige Notate
Fontana Kapitel V: Transzendenz und Immanenz des Unendlichen
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