Goltzsche Zeichnung Sehen Phänomenologie Genese

Goltzsches Linie als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 12.651 KB)

Goltzsches Linie

in: Dieter Goltzsche. Blauer Pfirsich. Arbeiten auf Papier, hrsg. von Sigrid Walther und Gisbert Porstmann, Ausstellungskat. Städtische Galerie Dresden – Kunstsammlung Dresden, Dresden 2016

Kapitel IV: Die Fragilität der Zeichnung

In Goltzsches Zeichnungen wird nicht nur das Darstellen, sondern auch das Sehen aus seiner Dienstbarkeit für andere Zwecke herausgelöst, um zu einer immer neu ansetzenden, nie zu positivierbaren Ergebnissen sich verfestigenden »Phänomenologie« der Erscheinungswelt zu werden – realisiert als eine »Phänomenologie« der Möglichkeiten zeichnerischer Linienführung. Auch hier steht Goltzsche auf dem Grund der modernen Neukonzeptualisierung der Kunst. Denn seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Idee eines »reinen Sehens« als dem Ausgangs- und Zielpunkt der Kunst – eines Sehens, das als solches auch vom Betrachter gefordert wird, sofern dieser den Sinn des jeweiligen Kunstwerks nicht verfehlen will. Goltzsches Blätter werden zur Vorführung eines Zeichnens, das sich die Regeln des Darstellens selbst setzt, wie zugleich zur Vorführung eines Sehens, das sich der Offenheit seines Vollzugs überlässt. Die stets unabgeschlossene Genese des gesehenen Motivs als auch der zeichnerischen Form wird zum eigentlichen »Inhalt« des Blattes. Dieser besteht, in immer neuen Varianten, in der wechselseitigen Abhängigkeit zwischen Zeichnen und Sehen, gerade weil man den Gegenstand so, wie ihn die jeweilige Zeichnung zeigt, noch nie gesehen hat. Die herausragende Qualität von Goltzsches Zeichnungen liegt darin, die beiden zentralen Postulate einer »autonomisierten« Kunst, das »reine Sehen« des Gegenstandes und die selbstbezügliche zeichnerische Form, so perfekt auszubalancieren, dass weder der Aspekt des Sehens noch der Aspekt der Form den Vorrang über das jeweils andere gewinnt. Sowohl Tagebau als auch Vorgebirge legen den Linienverlauf so an, dass er sowohl als Spur einer Hand lesbar wird, die über das Blatt fährt, wie zugleich als Spur eines Blickes, der sein Motiv Partie für Partie abtastet.

Das allerdings führt zu einer fundamentalen Fragilität der Zeichnung, einer paradoxen Verbindung von Sein und Nichtsein. Denn die Linien, ebenso wie der Blattgrund, treten nur dann in ihrer Materialität heraus, wenn der darstellende Charakter der Zeichnung schwindet, und die jeweiligen Motive gewinnen nur dann eine sich vom Blatt lösende Plastizität, wenn das Papier und die Striche sich zu Medien ihres Erscheinens immaterialisieren. Die Zeichnungen pulsieren zwischen materieller Konkretion und immateriellem Effekt, wobei das eine stets nur gegen das andere zu haben ist. In dieser fundamentalen Fragilität des Zeichnens liegt nicht nur der Reiz dieses künstlerischen Mediums. Sie nicht überwinden zu wollen, sondern sie schützend zu bewahren, wie Goltzsche es seit langem tut, bezeugt eine Haltung, die ebenso Weisheit wie Bescheidenheit ist.

Kapitel I: Das Anfängliche der Linie
Kapitel II: Die autonomisierte Linie – ästhetisch und politisch
Kapitel III: Goltzsches Linie – exemplarisch
Goltzsches Linie Kapitel IV: Die Fragilität der Zeichnung
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