Manet Deutung Offenheit Sujet Blick

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Die Wendung des Blicks

in: Manet – Sehen. Der Blick der Moderne, hrsg. von Hubertus Gaßner und Viola Hildebrandt-Schat, Ausstellungkatalog Hamburger Kunsthalle, Petersberg 2016

Kapitel I: Sehen

Wie sind Manets künstlerische Absichten zu bestimmen? Welchen künstlerischen Strömungen gehören seine Gemälde an? Seit ihrer Entstehung erfahren diese basalen Fragen immer andere Antworten und bleiben doch in irritierender Weise offen. Das liegt zum einen daran, dass sich Manet über seine Motive beharrlich ausschwieg – so als hätte er Henri Matisses spätere Aufforderung beherzigt, ein Maler müsse sich »die Zunge abschneiden«, da man als ein solcher kein Recht habe, sich mit etwas anderem auszudrücken als mit dem Pinsel. Vor allem aber liegt die irritierende Deutungsoffenheit an der Eigenart der Gemälde selbst. Sie lassen sich auf keinen eindeutigen Nenner bringen, sondern sind in fundamentalem Sinne zwiespältig. In Sujetwahl und Malweise strebte Manet nach absoluter Modernität und suchte gleichzeitig die Rückversicherung bei den Alten Meistern, vor allem bei »maître Velásquez«, wie er ihn nannte. Er pflegte den Habitus eines aristokratischen Dandys, um zugleich einen motivischen Egalitarismus zu praktizieren, der Themen der Prostitution oder des Proletariats für ebenso bildwürdig hielt wie eine mondäne Unterhaltung in einem Wintergarten – einen Egalitarismus, den die Anhänger hierarchischer Ordnungen als gefährlichen Demokratismus beargwöhnten. Auch stilistisch blieb Manet ambivalent und lässt sich weder dem Realismus noch dem Impressionismus, als den beiden damals fortschrittlichsten Kunstströmungen, eindeutig zuordnen. Ja noch nicht einmal seine Rolle als Vater der Moderne ist gewiss, seit die postmoderne Appropriation Art seine verfremdenden Paraphrasen älterer Bilder, beispielsweise von Tizians Venus von Urbino in der Olympia, als wichtige Inspiration erkannte.

Insbesondere aber ist schwer zu bestimmen, worin das Sujet der jeweiligen Bilder eigentlich besteht. Diese Sujets – ein Yachthafen, das Innere eines Café-Concert, ein elegantes Boudoir –, die ihn als Maler des modernen Lebens ausweisen, wirken zumeist wie ein bloßer Anlass, um letztlich etwas ganz Anderes, ebenso Ungreifbares wie Flüchtiges zu umkreisen. Dieses Andere ist der Blick – ein Blick, der bald sinnend ins Offene führt wie beim Porträt Rocheforts, bald den Betrachter unmittelbar adressiert wie bei Nana, bald irritierend leer bleibt wie bei der Kaffee bringenden Dienerin im Déjeuner dans l’atelier (Kat. 19).

Diesen Blick rückt die Ausstellung der Hamburger Kunsthalle in den Mittelpunkt. Sie verzichtet auf eine Wiedervorlage der Frage, in welche kunstgeschichtlichen oder sozialen Zusammenhänge Manets Malerei angemessenerweise zu stellen sei, und lenkt stattdessen die Aufmerksamkeit auf jenes für das Oeuvre so charakteristische Thema des Sehens. Dieses Sehen versteht die Ausstellung als ein doppeltes. Es meint den gemalten Blick in Manets Gemälden und zugleich das Betrachten dieser Gemälde – ein Betrachten, das wesentlich dadurch bestimmt wird, dass einem dabei der Blick der Dargestellten begegnet. Mit anderen Worten: Es geht um das Sehen im Bild und das Sehen des Bildes – und um die Folgen, wenn beides aufeinandertrifft.

Der Blick: tatsächlich ist er oft das einzige, was in den Bildern geschieht, ihre eigentliche Handlung. Dies gilt nicht nur für die Porträts, wo die Konzentration darauf nicht überraschen mag, sondern auch für Genregemälde wie etwa La serveuse de bocks (Kat. 1). Das führt nicht zuletzt dazu, dass sich die Grenze zwischen Genrebild und Porträt von beiden Seiten her auflöst, Porträts zu Szenen werden wie in Jean-Baptiste Faure als Hamlet (Kat. 45 u. 46) und Szenen zu Porträts gerinnen wie in Nana (Kat. 25). Eine Art Suspense entsteht: Was mögen die Dargestellten in diesem Augenblick denken? Die andere Frage lautet: Was sehen sie? Auf beides geben die Bilder unzureichende Antwort, allein schon deshalb, weil jenes, worauf sich der Blick der Dargestellten richtet, unsichtbar außerhalb des Bildes liegt. Dies macht die Blicke der Dargestellten ebenso beredt wie stumm. Als Blicke sind sie auf Kommunikation angelegt, die aber aufgrund der Unklarheit des Gegenübers unvollständig bleibt. Manets Gemälde zeigen Augenblicke des Übergangs, des Innehaltens, zuweilen einer eigentümlichen Abwesenheit. Sie erfassen die Menschen in herausgehobenen Momenten, in denen sich dennoch nichts entscheidet. Der Blick vereinzelt die Menschen, macht sie auf eine besondere Weise einsam, als sei er ein Fluchtpunkt inmitten des Bildes, in dem Raum und Zeit verschwinden.

Die aus dem Bild heraus gerichteten Blicke affizieren das Verhältnis von Betrachter und Bild unmittelbar. Durch die Herauswendung der Blicke kehren sich die Raumenergien um. Die Gemälde eröffnen kaum Tiefe, sondern projizieren den Raum vielmehr nach vorne, zum Betrachter hin. Sie fahren auf ihn zu »wie zuweilen Lokomotiven im Film«, wie Adorno über die »modernen Gebilde« der Kunst schrieb. Der Schauplatz des Bildes ist weniger die – ohnehin meist schmale – innerbildliche Bühne, auf die der Betrachter sieht. Vielmehr wird der Raum zwischen Bild und Betrachter zum eigentlichen Schauplatz. Die Begegnung von Bild und Betrachter wird auf ein nahsichtiges Face-to-face angelegt, das Manet noch dadurch dramatisiert, dass er die Dargestellten fast immer in Lebensgröße zeigt. Und doch bleibt die Begegnung notwendig asymmetrisch. Die Leinwand wird zwar von beiden Seiten her – vom Blick der Dargestellten wie vom Blick des Betrachters – überschritten. Dennoch bleibt sie jene unüberwindbare ontologische Grenze, die Realität und Fiktion trennt.

Manet - Sehen Kapitel I: Sehen
Manet - Sehen Kapitel II: Drei Beispiele
Kapitel III: Zum bildgeschichtlichen Zusammenhang
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