Manet Malerei Autonomie Tradition Sehen

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Die Wendung des Blicks

in: Manet – Sehen. Der Blick der Moderne, hrsg. von Hubertus Gaßner und Viola Hildebrandt-Schat, Ausstellungkatalog Hamburger Kunsthalle, Petersberg 2016

Kapitel III: Zum bildgeschichtlichen Zusammenhang

Zu Beginn wurde gesagt, die Ausstellung verzichte auf eine Stil- oder motivgeschichtliche Eingliederung Manets, um stattdessen die doppelte Thematisierung des Sehens in den Mittelpunkt zu rücken. Gerade diese Akzentsetzung ermöglicht jedoch auf ihre Weise eine kunst- und bildgeschichtliche Situierung von Manets Malerei. Diese sei abschließend in knapper Form umrissen.

Setzt man, wie es die Ausstellung vorschlägt, den Akzent auf das Sehen, lässt sich die gängige Auffassung konkretisieren, Manet sei einer der entschiedensten Verfechter malerischer Autonomie. Im Hinblick darauf sind im Frankreich des 19. Jahrhunderts zwei Schritte der Autonomisierung zu unterscheiden. Zunächst, nach dem Ende des Ancien régime in der Französischen Revolution und verstärkt durch die Kunstauffassung der Romantik, ging es darum, die Malerei von der Aufgabe zu entbinden, eine gesellschaftliche Funktion zu erfüllen – einem Auftrag zu gehorchen oder einer Sache zu dienen, beispielsweise der Sache der Kirche oder des Staates. Der zweite Schritt war entschieden radikaler. Manet – wie nach ihm so mancher Künstler der klassischen Avantgarden – wies die Verpflichtung zurück, in den eigenen Bildern überhaupt etwas Bestimmtes aussagen zu müssen. Die Ausdifferenzierung eines autonomen malerischen Feldes vollzog sich vor allem durch die Abwehr alles Literarischen im weitesten Sinne. War es in der Romantik, etwa bei Eugène Delacroix, noch allgegenwärtig, wurde es jetzt als aufzusprengende Umklammerung empfunden. Das Bild sollte keinen externen Vorgaben folgen, sondern alleine der eigenen malerischen Aufgabenstellung. Daraus resultierte die Tendenz zu Offenheit und Selbstbezüglichkeit, die auch Manets Gemälde prägte. Auf diese Weise sollte sichergestellt werden, dass jede Aussage, die dem Bild entnommen werden konnte, an dessen Eigenlogik rückgekoppelt blieb.

Manet aber destruierte nicht nur bestehende, als beengend empfundene Bindungen, sondern schuf zugleich neue. Orientierung suchte er bei künstlerischen Vorbildern jenseits der damaligen offiziellen Malerei, und er fand sie in gewissen vormodernen Meistern, in Tizian und Rubens, vor allem aber in Velázquez, in denen er Wahlverwandte erkannte – gerade auch was die Betrachterorientierung ihrer Bilder betraf. Diese malerische Rückversicherung ist für das Verständnis Manets, der zu Recht als letzter Alter Meister und zugleich erster Modernist gilt und dessen Gemälde wie ein Scharnier zwischen Tradition und Moderne erscheinen, wesentlich.

Die andere Orientierung indes betraf den Betrachter, dem sich Manets Bilder nicht nur metaphorisch, sondern wortwörtlich zuwandten, um mit ihm in einen Dialog von bislang unbekannter Unmittelbarkeit zu treten. Diese Zuwendung gewinnt nun, so die These, ihre eigentliche Pointe erst vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Strebens nach künstlerischer Autonomie.

Dieses Streben löste einen tiefgreifenden Wandel aus, der sowohl die Produktion wie auch die Rezeption der Kunst betraf und in dem historische, soziologische und ästhetische Aspekte kaum zu trennen sind. Als die herkömmlichen Brücken zwischen Kunst und Publikum – die literarisch fundierte Motivwelt, das Ensemble von geteilten Normen und Werten, die Auftraggeberverhältnisse – nicht mehr trugen, entwickelten die Künstler halb freiwillig, halb gezwungenermaßen ein Selbstverständnis, das jeden außerästhetischen Nutzen der Kunst ablehnte und den absoluten Primat künstlerischer Form gegenüber jeglichem Inhalt behauptete. Mit einiger Verzögerung veränderte sich auch die Einstellung der Rezipienten. Auch sie waren zunehmend davon überzeugt, Kunst sei nicht für externe Zwecke geschaffen – etwa zur staatlichen Repräsentation oder zur sittlichen Erbauung –, sondern in erster Linie zum Zwecke ästhetischer Erfahrung.

Damit waren die Voraussetzungen für eine Malerei gegeben, die das reine, absolute Sehen zum Ausgangspunkt und zum Ziel der Kunst erklärte, ein solches Sehen aber umgekehrt auch vom Betrachter forderte. Wollte man diese Verabsolutierung eines reinen Sehens mit einem Namen verbinden, wäre im Umfeld Manets wohl am ehesten Paul Cézanne zu nennen, der sein Leben an eine Malerei gab, deren Referenz ausschließlich die eigenen Sinneseindrücke sein sollten. Bei Manet hingegen gewann diese neuartige Kommunikation zwischen Künstler und Betrachter eine Form, die in gewisser Weise naheliegen konnte, aber bis heute nichts von ihrer provokanten Radikalität einbüßte: Manet ließ das reine Sehen, jene neue Basis der Kunst, mit einem konkreten Blick zusammenfallen, der sich aus dem Bildes heraus auf den Betrachter richtete. Das reine Sehen ist folglich nicht wie in Cézannes Fleckenmalerei ein ungreifbarer malerischer Blick, der sozusagen überall und nirgends ist. Es ist ein inkarnierter und individualisierter Blick, der die Macht des Zurückblickens besitzt.

Gerade deshalb aber bleibt die Begegnung von Bild und Betrachter zutiefst ambivalent. Im Blickwechsel mit der Bierkellnerin, dem kleinen Jungen oder den Menschen auf dem Balkon verweben sich Intimität und Anonymität. Die dem Betrachter zugekehrten Gesichter bleiben inselhaft, die Blicke scheinen gleichermaßen aus dem Nichts zu kommen und ins Nichts zu gehen. Wer ist ihr Adressat? Alle und niemand zugleich. Es sei die »Menge«, so Benjamin in seinem Aufsatz über Baudelaire, die im 19. Jahrhundert nicht nur zum Gegenstand, sondern vor allem auch zum Publikum der Kunst werde. Doch die Menge, so heißt es dort weiter, sei eine ambivalente Textur. Ihre Erfahrung werde immer wieder durch unvermittelte Begegnungen punktiert, deren Protagonisten sich fremd blieben und auch gleich wieder verlören. Baudelaire hat diesen genuin modernen Zusammenprall von Intimität und Anonymität, dem der Betrachter auch bei Manet begegnet, in der berühmten dritten Strophe des Gedichts An eine Passantin beschrieben: »Ein Blitz … und dann die Nacht! – Flüchtige Schönheit, / von deren Blick ich plötzlich neu geboren war, / soll ich dich in der Ewigkeit erst wiedersehen?«

Auf dem schwankenden Boden einer Zeit, in der die Kunst angesichts schwindender gesellschaftlicher und ästhetischer Gewissheiten nach einem neuen Ort, einer neuen Aufgabe und einem neuen Publikum suchte, schuf Manet eine Malerei von Angesicht zu Angesicht, die den in der Menge anonymisierten Betrachter direkt zu adressieren versuchte. Seine Malerei ist kein Abbild der Welt, sondern ein Abbild der immer nur punktuellen, nicht fixierbaren Beziehung des Menschen zu seiner Welt. Die Begegnungen, die Manets Gemälde provozieren, verschränken das Rätsel, das jeder einzelne Mensch für sein Gegenüber darstellt, mit dem Rätsel der Kunst.

»Das Rätsel lösen«, heißt es in Theodor W. Adornos Ästhetischer Theorie, »ist soviel wie den Grund seiner Unlösbarkeit angeben: der Blick, mit dem die Kunstwerke den Betrachter anschauen.«

Kapitel I: Sehen
Kapitel II: Drei Beispiele
Manet - Sehen Kapitel III: Zum bildgeschichtlichen Zusammenhang
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