Manet Psychoanalyse M’Uzan Alter ego

Manets Reise zu Velázquez als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 2.281 KB)

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Manets Reise zu Velázquez und das Problem der kunstgeschichtlichen Genealogie

in: Umwege. Ästhetik und Poetik exzentrischer Reisen, hrsg. von Bernd Blaschke, Rainer Falk, Dirck Linck, Oliver Lubrich, Friederike Wißmann und Volker Woltersdorff, Bielefeld 2008, S. 119-158.

Kapitel V: Velázquez als ‚innere Figur‘, Teil 2

Die Durchsicht dieser Bildzeugnisse führt vor Augen, welch komplexe Rolle Velázquez für Manet spielte. Diese Rolle wird durch den Hinweis auf stilistische Übereinstimmungen, beispielsweise auf beider ‚Realismus‘ oder ‚Präimpressionismus‘, nicht erschöpft. Weiterführend sind hier Ansätze, die im Rahmen der Psychologie künstlerischer Produktivität entwickelt wurden. Insbesondere scheinen mir Thesen, die der Psychoanalytiker Michel de M’Uzan zur Natur des künstlerischen Schaffensprozesses entwickelte, einschlägig zu sein, sowohl hinsichtlich des Charakters der Beziehung zwischen Manet und Velázquez als auch hinsichtlich der Gründe, diese Beziehung aufzubauen.

Den Ausgangspunkt von M’Uzans Argument bildet die blockierte Kommunikation zwischen Künstler und Publikum. M’Uzans Beschreibung einer solchen Situation erlaubt es, Manets Dilemma zu erfassen, als sein chef-d’œuvre der Olympia im Salon von 1865 auf einhelliges Mißfallen stieß. Sich auszudrücken, ohne zu gefallen, so M’Uzan, werfe den Künstler auf seine Einsamkeit und Ohnmacht zurück; sie verweise ihn, wie der Psychoanalytiker formuliert, auf seine Kastration. Doch in einer solchen Situation dem Publikumsgeschmack nachzugeben, biete hier keine Abhilfe. Denn zu gefallen, ohne sich auszudrücken, also auf die eigene Wahrheit zugunsten einer unmittelbaren narzißtischen Befriedigung zu verzichten, löse eine narzißtische Kränkung aus, die tiefer gehe, da sie an die Wurzeln der eigenen Person rühre.

Für M’Uzan hängt in einer solchen Situation alles davon ab, ob es dem Künstler gelingt, einen Weg aus dieser unmöglichen Alternative zu finden. Die Lösung bestehe darin, sich eine ‚innere Figur‘ aufzubauen, die anstelle des unverständigen Publikums zum Adressaten des eigenen künstlerischen Tuns werde. Manets Aufbruch nach Madrid scheint mir genau so motiviert gewesen zu sein: der Wahl zwischen ‚Publikum‘ oder ‚Wahrheit‘ auszuweichen und stattdessen ‚maître Velázquez‘ als jene ‚innere Figur‘ zu installieren, an die sich die eigene Malerei richtete. Der Künstler arbeite, so führt M’Uzan zum Charakter einer solchen ‚inneren Figur‘ aus, immer im Hinblick auf jemanden, für oder gegen einen anderen, der auch völlig still bleiben könne, dessen unausgesprochene Meinung aber von höchster Wichtigkeit sei. Wenn eine solche Person in der Wirklichkeit nicht vorstellbar sei, habe dies jene ‚innere Figur‘ zu leisten, über die das Zusammenspiel der gegensätzlichen Strebungen möglich sei:

„Dieser […] Andere, dem man gewissermaßen schon im Augenblick der Konzeption das Werk widmet, fällt keineswegs mit dem realen Publikum zusammen, dem sich das fertige Werk grundsätzlich früher oder später stellen muß. Aber er ist auch nicht der wirkliche Vater, obwohl er von einem introjizierten Elternbild notwendigerweise abstammt, denn die Eltern sind im Normalfall das erste Publikum, sozusagen die ersten Adressaten des Kindes. […] Der Autor hat also in sich ein gutes Objekt errichtet, auf das er in aller Sicherheit seine Triebe richten kann, denn er riskiert dabei nicht, die Figur zu zerstören noch sich ihre Repressalien zuzuziehen. Er ist der Vater dieses anderen, der gewiß aus Eigenschaften entsteht, die zuerst auf den realen Vater projiziert werden, und der, für das Entstehen des Werks notwendig, symbolisch die Rolle des Erzeugers spielt. Das Werk ist das Kind, das man ihm verdankt, das man ihm zueignet und das gleichzeitig dazu dient, ihm zu zeigen, wozu man fähig ist, während man ihm die bedingungslose Bestätigung abverlangt, die im voraus die Rechtmäßigkeit der Arbeit garantiert. […] In dieser Hinsicht übernimmt sie [die innere Figur, M.L.] die Rolle des Mittlers […] mit allem, was das an Gefühlen der Verehrung und Rivalität einschließt. Aber in einem letzten Paradox macht das beständige Wechselspiel der Projektionen und Identifizierungen aus ihr auch das alter ego des Autors, der auf diesem Umweg seine narzißtische Integrität wiederherzustellen sucht.“

‚Alter ego‘, ‚Mittler‘, ‚Vater‘ und ‚Rivale‘: M’Uzans Beschreibung versammelt genau diejenigen Rollen, die Velázquez bei Manet übernahm, und die Manet, vor dessen Werken im Prado stehend, überprüfte und bestätigte. Die Gewichtungen wechseln dabei von Bild zu Bild. Le fifre, in der Auseinandersetzung mit Velázquez‘ Pablo de Valladolid entstanden, ist – wie in Anlehnung an M’Uzan formuliert werden kann – jenes ‚Kind das man dem Meister verdankt‘, das ihm gleichzeitig zeigen soll, ‚wozu man fähig ist‘. Im Portrait d’Emile Zola spielt Velázquez hingegen eher die Rolle des ‚Mittlers‘, der es Manet erlaubte, sein eigenes künstlerisches Vorgehen zu rechtfertigen, während er schließlich im Autoportrait als Manets ‚alter ego‘ auftritt.

Einleitung
Kapitel I: Spanien in Paris
Kapitel II: Der Zögling Goyas
Kapitel III: Maître Velázquez
Kapitel IV: Legitimität, Vaterschaft und Tradition, Teil 1
Kapitel IV: Legitimität, Vaterschaft und Tradition, Teil 2
Kapitel V: Velázquez als ‚innere Figur‘, Teil 1
Punkt Manet Velazquez Kapitel V: Velázquez als ‚innere Figur‘, Teil 2
Manet Velazquez Kapitel VI: Tradition und/oder Modernität
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