Unverfügbares Bildfläche Rahmen Fenster Naht

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Drei Dimensionen des Unverfügbaren im künstlerischen Bild

in: Das Unverfügbare. Wunder, Wissen, Bildung, hrsg. von Karl-Josef Pazzini, Andrea Sabisch und Daniel Tyradellis, Zürich/Berlin 2013, S. 211-228.

Kapitel 1: Die Bildfläche

Die Fläche eines Bildes ist unzweifelhaft gegeben – als jene vom Maler bearbeitete Oberfläche eines Objektes, das an die Wand gehängt wird, ein bestimmtes Gewicht hat und je besondere Maße aufweist. Sobald die Bildfläche aber nicht als jene materielle Oberfläche, sondern ästhetisch in den Blick genommen wird, erweist sie sich als irritierend ungreifbar – eine Ungreifbarkeit, die akuter wird, je länger wir ein Bild betrachten.
Zwei Komponenten bestimmen die Fläche eines Bildes: einerseits die Bildebene, die virtuell in alle Richtungen weitergehend zu denken ist, andererseits die Bildgrenzen, die aus dieser virtuell unendlichen Ebene ein bestimmtes Geviert ausgrenzen. Sowohl die Ebene als auch die Begrenzungen haben, wie Derrida es formulierte, parergonalen Charakter, gehören zum ›ergon‹, zum Werk, dazu und bleiben doch außerhalb seiner. Das Bildgeviert ist nicht Teil des Erscheinenden, sondern lediglich dessen Grenze. Doch es gehört auch nicht der Ordnung der außerbildlichen Wirklichkeit an. Aus beiderlei Gründen ist die geläufige Bildmetapher des ›Fensters‹ irreführend. Sie suggeriert eine ontologische Kontinuität zwischen der im Bild gezeigten Welt und der außerbildlichen Wirklichkeit, so wie sie bei einem tatsächlichen Fenster besteht, das sich inmitten eines raumzeitlichen, das Davor und das Dahinter übergreifenden Zusammenhangs befindet. Doch die Rahmung des Bildfeldes hat kein gegenständliches Korrelat, weder in der Welt des Bildes noch in der außerbildlichen Wirklichkeit. Gleiches gilt für die Bildebene. Ihre Ungreifbarkeit wird schon daran ersichtlich, dass unentscheidbar bleibt, ob sie als Bildgrund hinter dem Raum liegt und diesen aus sich heraus entspringen lässt, oder ob sie wie ein durchsichtiger Schirm vor dem Raum liegt, durch den hindurch sich das Sichtbare zeigt.
Die Bestimmung der Bildfläche als ›Kompositionsfeld‹ ist aus anderen Gründen problematisch. Hier wird das Bildgeviert zu direkt mit der immanenten zweidimensionalen Ordnung des Bildes verknüpft. Unterschlagen wird dabei, dass das Bild, selbst die flächigste ungegenständliche Malerei, nur dann zum Bild wird, wenn es sich von der Bildfläche abstößt und eine virtuelle Tiefe gewinnt. Der parergonale Charakter des Bildfeldes, ebenso zum Werk zu gehören wie außerhalb seiner zu sein, gilt daher nicht minder für das ungegenständliche Bild. Was es zeigt, bleibt auch hier konstitutiv von der Bildfläche geschieden, auf (oder hinter) der es erscheint.
Kennzeichnend für die Bildfläche ist demzufolge, dass sie sich zwischen zwei ontologischen Ordnungen situiert: zwischen der fiktiven Welt des Bildes einerseits und der außerbildlichen Wirklichkeit, in der der Betrachter sich befindet, andererseits. Sie ist auf beide Ordnungen bezogen, als faktisches Ding gehört sie zur Welt des Betrachters, als Erscheinungsort der Bildwelt indessen zu jenem Fiktionalen, das der Betrachter lediglich sehen, nicht aber betreten kann. Gerade weil in ihr zwei ontologisch unvereinbare Bereiche aneinanderstoßen, bleibt sie selbst ungreifbar. Berühren können wir die Bildfläche nur als materielle Bildoberfläche, nicht aber als jene im Imaginären liegende Kontaktfläche; ja, gerade im Augenblick der Berührung eines Bildes wird die Differenz von materieller und ästhetischer Bildfläche offenbar. Mit welcher Metapher ließe sich die Eigenart dieses ›Zwischen‹ besser erfassen als mit den irreführenden Metaphern des ›Fensters‹ oder des ›Kompositionsfeldes‹? Am ehesten scheint die Bildfläche mit einer ›Naht‹ vergleichbar zu sein, die die Welt des Bildes und die Betrachterrealität zugleich trennt und verbindet. Die Metapher der ›Naht‹ verweist auf den eigentümlichen Charakter der Bildfläche als ein ›Nichts‹, das weder zur einen noch zur anderen Seite gehört, sondern die unfassliche Stelle ist, an der sie sich ›berühren‹.
An einem Gemälde – Edouard Manets Le Balcon – sei das Dargelegte veranschaulicht. Manets Gemälde bietet sich dafür an, weil es jene ›Naht‹-Funktion der Bildfläche zu seinem eigentlichen Sujet macht. Überdies enthält es mit der gemalten Fenstertüre und dem Balkongitter Elemente, die nach der doppelten Logik der différance die Bildfläche wiederholen und zugleich deren Andersartigkeit zu Bewusstsein bringen. Die Thematisierung der ›Naht‹ zwischen Bildwelt und Betrachterwirklichkeit ist in Manets Œuvre kein Einzelfall; immer aufs Neue wird hier der Blick ins Bild und der Blick aus dem Bild als ›Begegnung‹ über den ontologische Abgrund zwischen Realität und Fiktion hinweg inszeniert – bis zum finalen Meisterstück der Bar aux Folies-Bergère, in dem sich der Betrachter im innerbildlichen Spiegel als Anderer entdeckt.
Le Balcon ist als eine Hintereinanderstaffelung bildebenen-parallel verlaufender Raumsegmente organisiert. Hinter den Figuren eröffnet sich durch den Rahmen der geöffneten Balkontüre hindurch ein Einblick in die Tiefe des Raums. Gleichzeitig wird die Tiefe durch die Dunkelheit dieses Raums fast vollständig ausgelöscht. Gerade noch erkennen wir die schemenhaften Reflexe verschiedener Gegenstände und die Gestalt eines Jungen. In diesen großen, leer wirkenden Raum jenseits der Balkontür dringt der Blick kaum vor – so wie auch das Licht, das vom Standpunkt des Betrachters aus frontal auf die Figuren fällt, kaum in diesen rückwärtigen Raum einzudringen vermag. Das innerbildliche Fenster verspricht einen Einblick und vereitelt ihn zugleich. In genau entgegengesetzter Richtung sind die Figuren aus dem Dunkel ins Licht getreten. Sie befinden sich jetzt im schmalen Bereich zwischen dem Balkongitter, das mit der Grenze des innerbildlichen Raums zusammenfällt, und der Balkontür, hinter der das Bild ins Dunkel verschwindet. Damit halten sie sich genau auf der Schwelle zwischen Innen und Außen, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit auf. Von diesem Punkt aus blicken sie in den Raum hinaus, aus welchem das Licht sie beleuchtet und in welchem auch der Betrachter steht. Ausdruckslos schauen sie in unterschiedliche Richtungen auf etwas, was der Betrachter nicht sehen kann. Das Zusammenspiel von Raumgefüge, Lichtführung und Blickrichtungen erzeugt eine dramatische Umkehrung der Raumenergien. Der Raum fluchtet nicht mehr in die Tiefe wie bei einem zentralperspektivischen Bild, sondern schießt gleichsam auf den Betrachter zu. Durch diese Umkehrung werden Bild- und Betrachterraum nicht nur direkt aufeinander bezogen, so wie es für die zentralperspektivische Relation von Augenpunkt und Fluchtpunkt gilt, sondern greifen ineinander. Damit aber ist der Schauplatz von Manets Bild weniger der Raum innerhalb des Bildes, sondern vielmehr jener Raum, der zwischen den Figuren und dem Betrachter liegt und in dessen Mitte die ›Naht‹ der Bildfläche liegt. Deren wechselseitige Überschreitung erweist sich als die eigentliche ›Handlung‹ des Balcon, wo ansonsten alles stillzustehen scheint. Die ontologische Ungreifbarkeit der Bildfläche zeigt sich dabei besonders deutlich anhand des Balkongitters. Dass es zum Bildraum gehört, wird durch den aufgestützten Arm der hier porträtierten Berthe Morisot deutlich. Gleichwohl scheint es in eigentümlicher Weise auch vor dem Bild zu liegen. Gerade anhand des Gitters, das die Bildfläche zu umspielen scheint, wird deren fortwährender Entzug beinahe körperlich spürbar.
Das Trennende und zugleich Verbindende der Bildfläche zeigt sich noch unter einem weiteren Aspekt: Sie ›vernäht‹ die Autonomie mit der Heteronomie des Kunstwerks, oder anders formuliert, das ›für sich‹ mit dem ›für uns‹ des Bildes. Hegel, von dem die letzteren Begriffe stammen, äußert sich dazu in den Vorlesungen über die Ästhetik folgendermaßen:

»Wie sehr das Kunstwerk eine in sich übereinstimmende und abgerundete Welt bilden mag, so ist das Kunstwerk selbst doch als wirkliches, vereinzeltes Objekt nicht für sich, sondern für uns, für ein Publikum, welches das Kunstwerk anschaut und es genießt. Die Schauspieler z.B. bei der Aufführung eines Dramas sprechen nicht nur untereinander, sondern mit uns, und nach beiden Seiten hin sollen sie verständlich sein.«

An Hegels Bemerkung zeigt sich, dass wir Bilder unter zwei unterschiedlichen Aspekten betrachten können, die die Auffassung der Bildfläche jeweils unmittelbar affizieren. Entweder beziehen wir das Dargestellte in einem situativ-räumlichen Sinne auf unseren eigenen Standpunkt vor dem Bild – wofür Hegel den Begriff des ›für uns‹ gebraucht. In dieser Perspektive entmaterialisiert sich die Bildfläche zu einer transparenten Durchsicht und wird für das Bildverständnis weitgehend irrelevant. Blicken wir diesbezüglich erneut auf Manets Balcon, zeigt sich allerdings, dass hier Hegels Forderung der ›Verständlichkeit‹ kaum erfüllt wird. Weder lässt sich mit Bestimmtheit sagen, wo wir als Betrachter stehen (können wir deshalb in der gezeigten Weise auf den Balkon schauen, weil wir in der Luft schweben?), noch lässt sich angeben, in welcher Situation die untereinander isolierten Figuren erfasst sind. Einen ganz anderen Eindruck hingegen gewinnen wir von Manets Gemälde, wenn wir das Gezeigte nicht auf unseren Standpunkt vor dem Bild, sondern vielmehr auf die Bildfläche beziehen, das Bild also als autonomes, immanent geregeltes Objekt ›für sich‹ auffassen. Dann nämlich zeigt sich das situativ inkohärente Geschehen unter dem Aspekt formaler Kohärenz. Zwei Aspekte der Kohärenzstiftung seien hier herausgegriffen. Zum einen werden Bildformat und Bildordnung eng aufeinander bezogen, indem die Horizontalen und Vertikalen der Architekturelemente und der Figuren die Bildgrenzen wiederholen und in ihrem Zusammenspiel eine ebenso rigide wie offene, insgesamt dynamisch ausbalancierte Bildarchitektur errichten. Zum anderen erweisen sich die spitz- und stumpfwinkligen Dreiecke des Balkongitters als eine Art ›Leitmotiv‹, das an den unterschiedlichsten Stellen des Bildes wiederkehrt. Sie zeigen sich zunächst in der pyramidalen Konstellation der drei Figuren sowie in der Konstellation ihrer Köpfe. Die spiegelsymmetrisch verlaufenden Schrägen des Fächers und des Schirms bilden ein nach oben geöffnetes Dreieck, dessen Spitze, wenn man die Linie des Schirms verlängert, genau auf der vertikalen Mittelachse des Bildes liegt. Ein weiteres Dreieck hat seine Spitze im Ellbogen Berthe Morisots. Dessen Schenkel werden zum einen durch die Horizontale des Balkongitters gebildet, zum anderen durch die schräg aufsteigende Linie, die über die Oberarm- und Schulterkontur Berthe Morisots und die beiden Hände des stehenden Mannes zum Blumenschmuck am Hut der Frau rechts führt. Dreiecksformen zeigen sich aber selbst in den Details: in der Gabelung des Hortensienstiels, im Schnurrbart des Mannes, im Halsausschnitt am Kleid der rechten Frau oder in den beiden Doppelkordeln an ihrem Schirm.
In unserem Zusammenhang ist nun entscheidend, dass eine Betrachtungsweise, die das Sichtbare nicht räumlich-situativ auf den eigenen Standpunkt vor dem Bild bezieht, sondern es in seinen formalen Relationen zur Bildfläche auffasst, die Funktion der Bildfläche radikal verändert. Von einer irrelevanten, in ihrer Transparenz verschwindenden Größe wird sie zur maßgeblichen, ordnungsstiftenden Instanz. Die Erfahrung ist paradox: Während die Auffassung der Bildfläche als transparentes ›Fenster‹ eine sowohl in sich als auch in ihrem Betrachterbezug unverständliche Szenerie erscheinen lässt, erschließt sich der zwingende Zusammenhang des Sichtbaren, sobald wir die Bildfläche als ›absolute‹, von jedem gegenständlichen Korrelat losgelöste und ungreifbare Instanz begreifen. Dass allerdings die Erfahrung bildlicher Kohärenz an der ontologisch ungreifbaren Instanz der Bildfläche hängt, ist die erste Dimension – anders formuliert: die erste Konkretion – des Unverfügbaren im künstlerischen Bild.

Einleitung
Punkt Kapitel I: Die Bildfläche
Pfeil Kapitel II: Die Bildordnung
Kapitel III: Das Unsichtbare im Bild
Schluss
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