Zeichnung Linie Autonomie Moderne Immanenz

Goltzsches Linie als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 12.651 KB)

Goltzsches Linie

in: Dieter Goltzsche. Blauer Pfirsich. Arbeiten auf Papier, hrsg. von Sigrid Walther und Gisbert Porstmann, Ausstellungskat. Städtische Galerie Dresden – Kunstsammlung Dresden, Dresden 2016

Kapitel II: Die autonomisierte Linie – ästhetisch und politisch

Der Begriff der »Autonomisierung« der Linie – und in eins damit der Zeichenkunst – im späten 19. und 20. Jahrhundert meint ein komplexes, unterschiedliche Aspekte verknüpfendes Geschehen. Zunächst meint es die Auftrennung des Zusammenspiels von »freier« und Gebrauchskunst, das die vormoderne Zeichenkunst prägte. Diese Auftrennung erfolgte im Zug der generellen materiellen und geistigen Umwälzungen am Beginn der Moderne. Zum einen schwanden die Patronats- und Auftragsverhältnisse, die bislang einem großen Teil der Künstler, die besten und berühmtesten eingeschlossen, neben ihren künstlerischen Aufgaben auch praktische Pflichten übertrugen, beispielsweise als Illustrator, Innendekorateur, Zeremonienmeister oder Architekt. Der Doppelstatus vormoderner Künstler hatte sich nicht zuletzt in einer Zeichenpraxis manifestiert, welche die klare Trennung von »freier« und Gebrauchszeichnung nicht kannte. Dieses ästhetisch-praktische Kontinuum der vormodernen Kunst zerbrach im 19. Jahrhundert in seine beiden Hälften. Der Künstler war jetzt nur noch autonom, ohne soziale oder funktionale Absicherung in Patronatsverhältnissen, seine Praxis verkürzte sich zunehmend auf die eine, die ästhetische Seite seines Tuns. Parallel dazu verloren aber auch die Bezugsgrößen, die die ältere Zeichenkunst trugen, ihre Normativität, insbesondere das Prinzip der Kunst als Nachahmung (»Mimesis«) der Natur sowie die Ordnung der Kunstgattungen und Darstellungsverfahren, in welch letzterer das Zeichnen häufig am Anfang eines mehrstufigen Prozesses gestanden hatte, der über verschiedene Zwischenschritte zum finalen Werk führte. Dagegen entwickelten sich im 19. Jahrhundert malerische Praktiken, die, wie etwa jene des Impressionismus, das Vorzeichnen ablehnten, um das Motiv direkt in Farbe auf der Leinwand einzufangen. Alle diese Veränderungen hatten zur Folge, dass sich die Zeichnung jenseits ihrer überlieferten Funktionen im Zusammenhang einer reglementierten Atelierpraxis neu »erfinden« musste. Die gänzlich veränderten metaphysischen, sozialen und arbeitspragmatischen Rahmenbedingungen der Moderne erzwangen die Neuausrichtung der künstlerischen Praxis, gerade auch wenn sie die Praxis des Zeichnens betraf.

Von ihren angestammten Aufgaben und Arbeitsabläufen entbunden und zugleich der bisherigen Legitimationsrhetorik des künstlerischen Tuns beraubt, gingen die Künstler erneut, aber anders, auf den »Grund« ihrer Tätigkeit zurück, auf der Suche nach einer neuen »Ursprünglichkeit« jenseits der alten, außer Kraft gesetzten Vorstellungen davon. Zu den neuen Fundamenten der Kunst wurden nun die individuelle, durch die jeweilige Psyche nicht weniger als durch die Physiologie des Auges geprägte Wahrnehmung sowie die Eigengesetzlichkeit der eingesetzten künstlerischen Medien. Die Suche galt einer auf nichts außerhalb der Kunst rückführbaren, von anderen menschlichen Tätigkeitsformen abgrenzbaren künstlerischen Produktivität.

Das Losungswort für diese Suche hieß »Autonomie« – als ein Konzept, in dem die gesellschaftliche Randständigkeit des Künstlers in den besonderen Sinn der Kunst umschlagen sollte. Das Autonomiepostulat zielte zunächst darauf, die Kunst vom Auftrag zu emanzipieren, gewisse von außen vorgegebene Inhalte zu repräsentieren, die der älteren Kunst ihre »Überbau«-Funktion für Staat oder Kirche verliehen hatten – einem Auftrag, dem sich Dieter Goltzsche unter den anderen, aber gerade in dieser Hinsicht vergleichbaren Bedingungen der DDR ebenfalls ausgesetzt sah, jedoch beharrlich zurückwies. Ein zweites, ebenso fundamentales Autonomiepostulat trat hinzu. Zunehmend wiesen die Künstler die Verpflichtung zurück, in ihren Bildern überhaupt etwas auszusagen, was sich nicht aus dem Kunstwerk selbst erschloss. Daraus erklärt sich die Tendenz zu »schweigsamen« Sujets sowie zu einer »unvollendeten« oder fragmentarischen Bildform, die so viele Zeichnungen der Moderne prägt und auch in Goltzsches Zeichenkunst eine wesentliche Rolle spielt. Denn auf diese Weise lässt sich die Möglichkeit unterlaufen, den Sinn des Kunstwerks von diesem ablösen zu können. Das Ziel war eine neuartige ästhetische Immanenz, die den Sinn des Kunstwerks mit seinem ästhetischen Erscheinen konvergieren lässt. Der emanzipatorische Aspekt des Autonomiepostulates verdeutlicht, dass Goltzsches Berufung auf eine Kunst, die keinem bestimmten Inhalt dient, sondern allein sich selbst (»l’art pour l’art«), nicht auf weltabgewandten Ästhetizismus zielt, sondern vielmehr eine politische Dimension besitzt. »In der Abforderung der Obrigkeit«, so Goltzsche, »hatten die Künstler eine ausschließlich inhaltliche Erwartung zu erfüllen, weshalb ich mich sozusagen automatisch davon entfernte.« Im künstlerischen Autonomiepostulat, als dem Streben nach künstlerischer Freiheit, verschränken sich Ästhetisches und Politisches.

Kapitel I: Das Anfängliche der Linie
Goltzsches Linie Kapitel II: Die autonomisierte Linie – ästhetisch und politisch
Goltzsches Linie Kapitel III: Goltzsches Linie – exemplarisch
Kapitel IV: Die Fragilität der Zeichnung
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