Zeichnung Linie Blatt Anthropologie Medialität

Goltzsches Linie als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 12.651 KB)

Goltzsches Linie

in: Dieter Goltzsche. Blauer Pfirsich. Arbeiten auf Papier, hrsg. von Sigrid Walther und Gisbert Porstmann, Ausstellungskat. Städtische Galerie Dresden – Kunstsammlung Dresden, Dresden 2016

»Ideal wäre, man könnte mit der gleichen Linie auf einem Blatt
alles umschließen und ausdrücken, Häuser, Fenster, Bäume, Augen, Gestalten usw.,
das heißt, ein Gewebe, das dies zu vertreten imstande ist.«


»Man kann das Zeichnen nicht aufgeben, weil es uns selbst spiegelt und auch
ein bißchen amüsiert; Tagebuch ohne Fakten; Trieb; Seismographie.«

»Das Staunen steht vor der Perfektion, ja gegen sie.«

(Dieter Goltzsche)

Kapitel I: Das Anfängliche der Linie

Als Formfindung und Formvollzug ist die Linie schwer zu fassen. Die Grenze eines Gegenstandes, den die Linie markiert, ist ein »Nichts«, weder im Gegenstand noch außerhalb seiner sichtbar vorhanden. Die Linie, die der Natur nicht entnommen werden kann, wird in der Zeichnung nicht bloß festgehalten, sondern allererst geschaffen. So wird das Ziehen einer Linie zu einem dezisionistischen Akt: zum Markieren einer Unterscheidung zwischen Körper und Nicht-Körper, diesseits und jenseits, innen und außen. Das Ziehen einer Linie bricht das raumzeitliche Kontinuum auf, mit der Folge, dass es jetzt zwei voneinander unterschiedene Seiten gibt. Doch gerade weil die Linie und ihr elementares Unterscheidungsvermögen nichts ist, was der Natur selbst entnommen werden kann, wird das Zeichnen zum paradigmatischen Vermögen der Kunst. Das Verwandeln eines ontologischen »Nichts« in eine Möglichkeit, dem Seienden eine Form zu geben, eröffnet den Raum, in dem die Kunst sich aus sich selbst begründen kann.

Auch der Zeichengrund, das Geviert des Zeichenblattes, ist, wie Dieter Goltzsche immer wieder betont, nichts, das in der Natur vorgefunden werden kann. Während die ältere Kunst das Viereck des Bildes zuweilen in Analogie zu einem Fenster begriff, durch das wir auf die dargestellte Welt blicken, offenbart die zunehmend flächige Kunst der Moderne die »Künstlichkeit« des Bildgevierts, das außerhalb des Bildes keinerlei Entsprechung hat.

In der Begegnung dieser beiden »Künstlichkeiten« – der Linie und des Blattgevierts – besteht die Kunst der Zeichnung, und das eigentliche »Wunder« der Zeichnung liegt darin, dass in dieser Begegnung Funken geschlagen werden, die Bilder der Welt zünden können.

In anthropologischer Perspektive erscheint die Linie als primordiales Ausdrucksmittel des Menschen, dessen älteste Zeugnisse, auf Faustkeile oder Höhlenwände geritzt, zeitlich weit hinter die frühesten Schriftzeichen zurückreichen. Das Ziehen von Linien gilt als humane Uraktivität, deren »Anfänglichkeit« sich bis heute in jeder Kinderzeichnung wiederholt. Widerhall findet dies im Urteil über künstlerische Zeichnungen als persönlichste und subjektivste Äußerung eines Künstlers, als unmittelbarer Ausdruck seines Selbst, wodurch das Betrachten einer Zeichnung ein privilegiertes, ja intimes Verhältnis zum Künstler zu eröffnen scheint.

Auch aus medialer Perspektive zeigt sich das Zeichnen einer Linie als Basishandlung. Denn notwendig ist lediglich ein Minimum: ein markierendes Instrument sowie etwas, worauf die Markierung erfolgt. Schon der erste Strich, sei es auf einem Blatt, auf einer Mauer oder im Sand, lässt das mediale Potenzial der Zeichnung sich entfalten: die Scheidung zwischen Markierung und tragendem Grund, aber auch die Doppelwertigkeit jeder Markierung, einerseits Spur ihrer eigenen Genese zu sein, das heißt, auf den Zeichnenden und sein Tun zurückzudeuten, andererseits aber von sich weg auf anderes zu verweisen, bei einer horizontalen Linie beispielsweise auf den Horizont.

Gerade unter dem »Anfänglichen« der Zeichnung verstehen die unterschiedlichen Epochen allerdings denkbar Verschiedenes – und praktizieren es entsprechend. Es sind, mit einem Begriff Ludwig Wittgensteins gesprochen, unterschiedliche »Sprachspiele« des Primordialen, deren Reiz und Signifikanz in ihrer jeweiligen Besonderheit liegt. Der »Urgrund«, der im Zeichnen sichtbar zu werden scheint, ist kein überzeitlich gleicher; der Wandel der Kunst schließt den Wandel des Denkens über das eigene anthropologische oder mediale Fundament ein. Dies ist insbesondere mit Blick auf die Moderne des späten 19. und 20. Jahrhundert zu berücksichtigen – jener Epoche, mit der Goltzsches Zeichenkunst auf mannigfaltige Weise verwoben ist. Denn hier erfindet sich die Kunst in einem vielschichtigen Prozess, der gemeinhin unter dem Begriff der »Autonomisierung« zusammengefasst wird, gleichsam neu. Alle drei wesentlichen Aspekte, unter denen wir eine künstlerische Zeichnung auffassen können, als Spur einer menschlichen Aktivität, als Kunstwerk sowie als Darstellung, verändern sich in der Moderne grundlegend. Sowohl die Aktivität des Zeichnens als auch die Eigenart eines Kunstwerks wie auch schließlich die Darstellungsfunktion eines künstlerischen Bildes werden in der Moderne gänzlich neu und anders aufgefasst.

Goltzsches Linie Kapitel I: Das Anfängliche der Linie
Goltzsches Linie Kapitel II: Die autonomisierte Linie – ästhetisch und politisch
Kapitel III: Goltzsches Linie – exemplarisch
Kapitel IV: Die Fragilität der Zeichnung
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