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Modernistische Praxis – Richard Shiff als Druckversion (PDF mit Fn. 292 KB)

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Die modernistische Praxis nachvollziehen. Richard Shiff

in: Zwischen Ding und Zeichen. Zur ästhetischen Erfahrung in der Kunst, hrsg. von Gertrud Koch und Christiane Voss, München 2005, S. 135-138.

„Mein Akzent liegt eindeutig auf dem Prozess des Machens – auf den Techniken. Entsprechend verstehe ich Repräsentation als einen Darstellungsakt, der zugleich (ikonische) Figuration und (symbolische) Konfiguration ist. Ich gebrauche den Begriff Repräsentation nicht im Sinne eines Erreichens von Re-Präsentation, d.h. einer Art zweiten Erscheinens, das die volle ‚Präsenz‘ des Originals besäße. Die Quellen des 19. Jahrhunderts, die ich zitiere, scheinen ein sehr klares Bewusstsein davon zu haben, dass sich Repräsentation zwar hin und wieder der Re-Präsentation anzunähern versucht, dieses Ziel jedoch nicht erreicht.“ (Richard Shiff)

Dieses Zitat aus einem frühen Aufsatz umreißt Richard Shiffs Forschungsfeld sehr genau. Der „Darstellungsakt“, um den die inzwischen zahlreichen Studien kreisen, wird im Zeitraum jener Moderne untersucht, welche seit dem frühen 19. Jahrhundert die alten Auffassungen künstlerischer Praxis, beispielsweise die Mimesis-Lehre, durch neue zu ersetzen unternahm. Im Mittelpunkt dieser Neufassungen stand weniger die Beziehung von Urbild und Abbild wie im Falle der Mimesis-Theorie, sondern vielmehr der Vorgang, der sich zwischen Künstler, gewähltem Darstellungsmedium und darzustellendem Gegenstand abspielt – ein Vorgang, dessen Vielschichtigkeit und Prozessualität das Kunstwerk bisweilen so deutlich hervorkehrt, dass er zum eigentlichen Inhalt des Kunstwerks zu werden scheint. Shiffs Augenmerk gilt, kurz gesagt, der Repräsentation nach dem Ende der klassischen Repräsentation.

Im Blick bleibt dabei stets zweierlei: die künstlerische Praxis, d.h. das Machen mit seinen jeweiligen Techniken, und zugleich die parallel laufende, bald vorwegnehmende, bald nachvollziehende Theorie, welche die Praxis rahmt und reflektiert, von dieser aber selbst wiederum neu ausgerichtet wird. Shiff betont den rhetorischen Charakter beider Ebenen: sowohl der Theorie, welche die Kunst in ein bestimmtes Licht zu rücken versucht, als auch der Praxis, die es in der Moderne darauf anlegt, im Dargestellten zugleich den Darstellungsprozess darzustellen, d.h. vorzuführen, wie entschieden das Dargestellte durch die Eigenart des Mediums und die spezifischen künstlerischen Techniken geprägt wird. Gerade die direkten, unmittelbaren und authentischen Verfahren, welche sich die Künstler seit der anti-akademischen Wende der Moderne gerne zuschreiben, sind insofern rhetorisch, als sie die Direktheit und Authentizität als Effekt inszenieren. Es handelt sich jeweils, so Shiff, um das Paradox einer repräsentierten Unmittelbarkeit.

Während sich die früheren Texte eher den theoretischen Diskursen insbesondere des 19. Jahrhunderts widmen, wenden sich die jüngeren verstärkt der Wechselbeziehung zwischen Künstler und Medium zu. In einem close reading der materiellen Bildoberfläche als der Spur des Machens vollziehen sie die Eigenart der jeweiligen Repräsentationsakte nach. Es ist jene „Berührung“ von Künstler und Medium im Kunstwerk, die Shiff mit dem „Physischen des Abbildens“ (im Original: „the physicality of picturing“) meint. Doch auch die Werkanalysen verdeutlichen, wie wenig sich im Modernismus, der von Programmen und Konzepten so stark geprägt wurde, Theorie und Praxis trennen lassen. Denn gewisse Kernbegriffe des modernistischen Diskurses – beispielsweise Originalität, Abstraktion, Materialisierung oder Verkörperung – kommen unweigerlich immer wieder ins Spiel, indem die Werke häufig ebendiese Begriffe und Konzepte zu thematisieren scheinen. Umgekehrt entfaltet jener eher diskurstheoretisch ausgerichtete Aufsatz, dem das einleitende Zitat entstammt, ein zentrales Problem modernistischer Praxis. Die Künstler der Moderne stehen nämlich Shiff zufolge vor der Schwierigkeit, einerseits Werke hervorzubringen, die sich authentischer und singulärer Expression verdanken, andererseits aber einen Stil zu entwickeln, der die eigenen Werke deutlich als Monets, Picassos oder Lichtensteins ausweist. Sie stehen vor der Aufgabe, eine Handschrift zu erfinden, die unmittelbar ist und dennoch von Werk zu Werk wiederholbar bleibt. Für diesen Widerspruch fand Shiff eine überaus einprägsame Formulierung. Was die Künstler erreichen müssten, sei eine „technique of originality“, eine „Technik der Originalität“. Diese trete in der Moderne an die Stelle der alten, im Laufe der künstlerischen Ausbildung erlernten Techniken der Repräsentation – des Helldunkels, der sorgfältig unterschiedenen Stufen im Werkprozess zwischen erster Skizze und abschließendem Firnis, dem kalkulierten Verweis auf frühere Meister usw.

Im hier vorliegenden Aufsatz klingt diese Problematik in der Diskussion von Georges Seurats pointillistischem Punktraster an, das Seurat einerseits als seinen persönlichen Stil, andererseits als eine bloß angewandte Methode beschrieb. Seurat löste jenes von Shiff herauspräparierte Problem, indem er ein entsubjektiviertes, neutrales Malverfahren entwickelte, als dessen Erfinder er sich rühmen konnte, dem jedoch die Wiederholbarkeit von Anfang an eingeschrieben war. Seurat steht mit seiner Lösung nicht allein. Manche Künstler der Moderne sicherten sich ihre individuelle Wiedererkennbarkeit wesentlich durch die Wahl eines Mediums, das Handschriftlichkeit gerade verneinte, sich dadurch aber umso vielfältiger einsetzen ließ. Zu denken wäre beispielsweise an Yves Kleins „International Klein Blue“, mit dem dieser Bildoberflächen und Gegenstände sehr unterschiedlicher Art überzog, an Warhols Siebdruck, der auf alles zu passen schien und die Fähigkeit besaß, alles in einen „Warhol“ zu verwandeln, oder die weißen Kantenwürfel Sol LeWitts, die sich zu immer neuen Gebilden anordnen ließen. Den psychologischen Gründen für das Streben nach einem zugleich individuellen und unpersönlichen „look“ geht Shiff in neueren Texten wiederholt nach, und seine Vermutung liegt darin, dass die Künstler auf diese Weise drei Dinge zu vermeiden suchten: erstens die seit der Genieästhetik bestehenden Klischees künstlerischen Selbstausdrucks, zweitens den ideologischen Positionsbezug, zu dem die Kämpfe um die „richtige“ Moderne zwangen, und drittens die Abbildung der eigenen Persönlichkeit, soweit diese als sozial und kulturell geformt gelten konnte. Mit dem paradoxen Effekt einer unpersönlichen Handschrift versuchte man, so Shiff, die „eigentliche“ Persönlichkeit vor gesellschaftlicher Zurichtung und stilistischer Schubladisierung zu retten.

Seine frühen Studien zu diesem Themenkomplex bündelte Shiff in exemplarischen Untersuchungen zu Cézannes Werkprozess, die herausarbeiten, was Cézanne unter seinem Lieblingsbegriff der „réalisation“ verstand. In seinen Bildern versuchte Cézanne jeweils mehreres im selben Zuge zu realisieren: zunächst das Motiv in seiner unendlichen Vielfalt – beispielsweise die Montagne Sainte-Victoire -, des weiteren die Empfindungen, die das Motiv im Künstler auslöste, und schließlich das konkrete Gemälde selbst, dessen Entstehung die anderen „Realisierungen“ – die des Motivs und die der Empfindung – erst ans Licht bringen konnte. Der Prozess des Machens bedeutete für Cézanne, die gegenläufigen Bewegungen des Aufnehmens eines Sinneseindrucks und der Niederlegung von Farbe auf der Leinwand, der „Impression“ und der „Expression“, in einer einzigen Geste ineinander aufgehen zu lassen. Cézannes fleckige Unschärfe lässt sich somit als diejenige Technik begreifen, die es dem Maler ermöglichte, den einzelnen Markierungen auf der Leinwand jene entscheidende semantische Ambivalenz zwischen ikonischem Verweis auf das Motiv und indexikalischem Rückverweis auf den Maler einzuprägen. Die Spannungen im ästhetischen Objekt resultieren aus diesem mehrschichtig lesbaren Werkprozess. Sie schlagen sich nieder als Ambivalenzen der bemalten Oberfläche zwischen Sehen und Berühren, Flachheit und Tiefe, Materialität der Malmittel und Immaterialität des bildnerischen Effekts. Dabei sind es nicht nur die Spannungen auf der Subjekt- und auf der Objektseite der Kunst, die Shiff untersucht, sondern vor allem die metonymischen Transfers, die sich dazwischen ereignen. Sie ermöglichen es, dass Spannungen im Bild für Spannungen im Werkprozess oder im Subjekt des Künstlers einstehen können, beispielsweise indem das Bild anthropomorphisiert und die Leinwand des Bildes als Haut begriffen wird, die wie die menschliche Haut das Vermögen des Atmens besitzt. Shiff unterscheidet dabei genau zwischen dem, was ein Bild ist, und dem, was es als Effekt erzeugen soll – eine Unterscheidung, die mit der Unterscheidung zwischen Ding und Zeichen unmittelbar zusammenhängt. Denn wie Shiffs bereits erwähnte Ausführungen zur „Technik der Originalität“ zeigen, ist ein Kunstwerk nicht einfach originell oder nicht originell; entscheidend ist vielmehr, ob es Originalität als Effekt zu erzeugen vermag, beispielsweise durch eine geschickte Inszenierung von Indexikalität. Der moderne Künstler ist nach Shiff ein Meister jener metonymischen Transfers, die ein Zeichen oder eine Handlung aus einem Kontext in einen anderen verschieben. Erst diese metonymischen Transfers können dazu führen, dass beispielsweise die Materialität des Kunstwerks für die Körperlichkeit eines Menschen einsteht oder – um das Beispiel Seurats wieder aufzunehmen – Sehen und Berühren wechselseitig aufeinander verweisen. Seurat gelang dies, indem er das Sehen in eine Folge punktueller Berührungen der Leinwand umsetzte, die sich in der Wahrnehmung des Betrachters wieder in Visualität zurückverwandeln, so als handle es sich nicht um Farbpunkte, sondern vielmehr um flirrendes Licht.

Eine letzte Spannung in den von Shiff diskutierten Kunstwerken sei angesprochen, nämlich diejenige zwischen Materialität und Medialität des Bildes. Hierbei scheint es sich um eine Unterscheidung zu handeln, die eine historische Dimension besitzt. In Bezug auf Chuck Closes Porträts spricht Shiff davon, sie gäben sowohl das Bild zu sehen wie zugleich „die Dinge, aus denen es gemacht ist“ (im Original: „the stuff“). Dieser handfeste Ausdruck – „stuff“ – überrascht. Denn er akzentuiert die Materialität des Bildes in einer sehr spezifischen Weise. „Stuff“ ist seiner Wortbedeutung nach widerständig, häufig unordentlich, vielleicht sogar schmutzig, einem selbst aber gleichwohl nahe und wichtig, wie am Ausdruck „my stuff“ deutlich wird. „Stuff“ weist gerade nicht jene abstrakte Immaterialität des Mediums auf, von der die heutige Medientheorie ausgeht, wenn sie die Medien- und Zeichenbasiertheit unserer Kommunikation betont. In der Bedeutung des „stuff“ für den Werkprozess könnte womöglich eine Spezifik einer künstlerischen Moderne liegen, die inzwischen vergangen wäre. Die Medialität der Kunst wurde von Delacroix bis zu den Abstrakten Expressionisten – also im Zeitraum, dem Shiffs Augenmerk gilt – sehr materiell und „dinghaft“ begriffen. Das gilt auch noch für Chuck Close, den Shiff zwar in einen Zusammenhang mit dem Phänomen der Digitalisierung und der Entstehung neuer Technologien wie Fernsehen oder Computer bringt, der jedoch deren Erfahrung in das alte Medium der Ölmalerei zurückübersetzt. Mit dem breiten Einzug der so genannten Medien in die Kunst, die nun selbst als Arbeitsmedium eingesetzt werden, scheinen sich Materialität und Medialität zunehmend auseinander zu bewegen. Was aber – falls die Diagnose zutrifft – bedeutet dies für die metonymischen Transfers, die Shiff herausarbeitet, insbesondere für die Austauschbeziehungen zwischen der Materialität des Kunstwerks und der Körperlichkeit des Künstlers? Was geschieht unter diesen andersartigen Bedingungen mit dem „Physischen des Abbildens“? Die Antwort darauf wären Studien, die jene Linie, die Shiff aus dem frühen 19. Jahrhundert bis in die 1960er Jahre zieht, in unsere Gegenwart weiterführten. Sie hätten den noch unklaren Folgen zu gelten, welche die Immaterialisierung und die Digitalisierung der Medien auf die Produktion und die Erfahrung der Kunst haben. Der gerade erst beginnenden Diskussion darüber wäre die Genauigkeit zu wünschen, mit der Richard Shiff Werke und die sie begleitenden Diskurse analysiert.