Andy Warhol Kombinatorik Serialität Kennedy Attentat

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Andy Warhol. Thirty Are Better Than One

Frankfurt/M. 1995 (Reihe Kunst-Monographien d. Insel-Verlags)

Kapitel V: Pictorial Design

Es dürfte an dieser Stelle sinnvoll sein, das Feld etwas auszuweiten: das bisher Gesagte an anderen Bildern Warhols zu überprüfen und gleichzeitig die gestalterischen und thematischen Grundzüge seines Werks in den Blick zu rücken.
1949 schließt Warhol seine künstlerische Ausbildung am Carnegie Institute of Technology mit einem Bachelor of Fine Arts in Pictorial Design ab. Der Lehrgang, den er dafür durchlaufen hat, eignet sich zwar auch für Künstler, die später frei arbeiten wollen, ist jedoch in erster Linie auf die Ausbildung von kommerziell arbeitenden Graphikern zugeschnitten. So beinhaltet er neben dem klassischen Unterricht in Zeichnung und Malerei in besonderem Maße die Vermittlung von Techniken, die mit vorhandenem Bildmaterial neue gestalterische Zusammenhänge zu schaffen erlauben. Dem Erlernen von reproduktiven und Collage-Verfahren z. B. ist vom ersten Studienjahr an ein wichtiger Platz eingeräumt.
Durch seine Schriften übt der Maler, Bildhauer, Photograph und Filmemacher Laszlo Moholy-Nagy einen bedeutenden Einfluß auf den Unterricht aus. Warhol selbst liest sie in seiner Studienzeit mit Begeisterung. Der Konstruktivist, der in den 1920erJahren am Bauhaus lehrte, wird nach seiner Emigration in die Vereinigten Staaten 1937 zum Leiter des New Bauhaus in Chicago und 1939 zum Gründer der dortigen School of Design. In »The New Vision«, einem teils aus dem Deutschen übersetzten, teils in Amerika neu verfaßten Buch, schreibt Moholy-Nagy:
»Meine fotografischen Experimente … überzeugten mich, daß sogar die vollständigste Mechanisierung von Techniken keine Bedrohung für die essentielle schöpferische Kraft darstellt. Verglichen mit dem Schöpfungsprozeß sind die Probleme der Ausführung nur insoweit wichtig, als die angewandte Technik – manuell oder mechanisch – gemeistert werden muß. … Malen mit der Hand mag seine historische Bedeutung beibehalten; früher oder später wird sie ihre Exklusivität verlieren. In einem industriellen Zeitalter ist die Unterscheidung zwischen … Handwerklichkeit und mechanischer Technisierung nicht länger eine absolute.«
Die Einsicht Moholy-Nagys, die künstlerische Gestaltung von der Verpflichtung zu manuellem, handwerklichem Tun zu lösen und auf den Einsatz mechanischer Hilfsmittel hin zu öffnen – eine Einsicht, die in seinen Schriften stets wiederkehrt -, hat sich Warhol in konsequenter Weise zu eigen gemacht. Tatsächlich ist in Warhols Bildern keine Handschrift in einem malerischen Sinne zu finden. Diese ergibt sich vielmehr ausschließlich aufgrund der verschiedenen ästhetischen Entscheidungen, die es im Prozeß der Bildherstellung, von der Auswahl einer bildlichen Vorlage über die Umformung zum Drucksieb bis zur schließlichen Fertigung des Tafelbildes, zu fällen gilt. Warhols Bildprozeß ist eine eigentümliche Mischung von Handwerk und Technik. Er technisiert seine Hand und verhandwerklicht die Technik. Er selbst will die Maschine sein (»I want to be a machine«, lautet eine seiner bekanntesten Aussagen), nie kauft er sich eine Maschine, die er bloß anschalten müßte und die für ihn die Arbeit leistete – obschon es solche Maschinen natürlich gegeben hätte.
Daß der Siebdruck das (ab 1962 ausschließliche) Mittel wird, die photographische Vorlage auf die Leinwand zu übertragen, ist in diesem Licht zu sehen. Der Siebdruck, eine komplexere Form des Schablonendrucks, ist ein zugleich simples und hochgradig wandlungsfähiges Druckmedium. Das liegt zum Teil an der Herstellung des Siebs, die viele Varianten und Eingriffe erlaubt (Gewebefeinheit, Belichtungsstärke, Konturschärfe usw.).Vor allem aber hängt es damit zusammen, daß der Druck von Hand vorgenommen werden kann. Das Sieb wird in diesem Fall ohne eine Presse auf die zu bedruckende Fläche gelegt und die Farbe eigenhändig durch das Sieb gestrichen. Auch beim Druckvorgang sind damit weitreichende Manipulationen möglich, etwa in Bezug auf die Menge der verwendeten Farbe, die Führung der Druckrakel, die Andruckstärke des Siebs, die Häufigkeit der Siebreinigung usw. Warhol nutzt diese Möglichkeiten in hohem Maße, insbesondere dadurch, daß er bei der Siebherstellung wie auch beim Druck Ungenauigkeiten und »Fehler« provoziert, die er als Gestaltungsmittel einsetzt: zu starke Belichtung, Überlappungen der einzelnen Drucke sowie der verschiedenen Druckebenen, Verstopfung des Siebgewebes u. a.
Wenn also die Reproduktionstechnik die ästhetische Wirkung der Bilder dominiert und dominieren soll, dann immer in der spezifischen Weise, in der Warhol sie einsetzt und manipuliert. Auf diese Weise prägt sich Warhols gestalterisches Kalkül jedem seiner Bilder ein. Sie tragen unverwechselbar seine Handschrift, die sie sogleich als »Warhol« erkennbar macht. Drei grundlegende Aspekte dieser Handschrift: Entkontextualisierung, Kombinatorik und Serialität, sollen im Folgenden zur Sprache kommen.

Entkontextualisierung

In der Wiedergabe eines bestehenden Bildes kann der dargestellte Gegenstand dadurch modifiziert oder verfremdet werden, daß nicht alle Merkmale oder Informationen des Bildes in die Reproduktion übernommen werden. Bei Thirty Are Better Than One betraf das die Eliminierung von malerischen Qualitäten des Originals, z. B. das subtile Hell-Dunkel und die Farbigkeit, und bei den Marilyns das Wegschneiden des Körpers unterhalb des Kopfes. Das Weglassen von bildlichen Informationen kann aber auch darin bestehen, einen Gegenstand oder eine Gestalt aus dem bildlichen Zusammenhang und damit aus der bestimmten räumlichen und zeitlichen Situation herauszureißen. Bereits die Arbeiten des Werbegraphikers setzen eine solche Entkontextualisierung des Bildgegenstandes als Gestaltungsmittel häufig ein. Als Beispiel mag eine 1953 entstandene Monotypie (Einmaldruck) dienen; sie entstammt einem Alphabetbuch – A is an Alphabet -, das Warhol an die Art directors verschiedener Zeitschriften und Unternehmen verschenkt (Abb. 16). Warhol paust hier die Umrisse eines Akrobaten durch, dessen Bild 1952 im Magazin Life erscheint (Abb. 17). Er reduziert jedoch die Gestalt nicht nur auf ihre Außenkontur, sondern läßt vor allem die wichtigste Information für das Verständnis der Figur und ihrer Haltung weg: das Seil. Dadurch verwandelt sich die Vorderansicht in eine Rückenansicht, zudem die Untersicht in eine Aufsicht. Blicken wir in der Life-Photographie von unten einem Akrobaten ins Gesicht, so haben wir in der Monotypie Aufsicht auf eine Gestalt, die sich, von uns abgewendet, zur Seite oder hinunterbeugt. Unter der Monotypie steht zu lesen: »U was an umbrella ant / who reminded this young man / of his favorite aunt.« Obschon äußerlich unverändert belassen, ist die Figur vom Seiltänzer zu einem »jungen Mann« geworden, der eine »Schirm-Ameise, die ihn an seine Lieblingstante erinnert«, erblickt. Die Photographie liefert Warhol nur gerade einen Rohstoff, den er durch die Entkontextualisierung mit einem gänzlich neuen Inhalt versieht. Warhol erklärt denn auch: »The important thing is to leave out.« [»Das Wesentliche ist das Weglassen.«]
Auch die »klassischen« Bilder Warhols arbeiten mit diesem Gestaltungsmittel. Als ein Beispiel, das die Folgen besonders anschaulich macht, sei das Diptychon Campbell’s Soup Cans (Chicken with Rice, Bean with Bacon) herausgegriffen (Abb. 18). Die beiden Dosen, je eine auf jeder Tafel, schweben ohne jede räumliche Einbettung auf dem weißen Bildgrund. Sogar die reduzierteste Ortsangabe, auf die kein Stilleben verzichtet (um Warhols Bild mit den Bildern derjenigen Gattung zu vergleichen, in deren Tradition es am ehesten steht), ist weggelassen: die horizontale Linie, die je nach Bild eine Tisch oder eine Raumkante meint (Abb. 19). Da auf diese Weise der Zusammenhang, in dem die Dosen stehen, offen bleibt, bleibt auch unklar, warum die rechte Dose viel kleiner ist als die linke. Ist dies so, weil sie weiter von unserem Auge entfernt ist, oder weil sie, was ebensogut möglich ist, als Dose kleiner ist? Obgleich die erste Antwort näher liegt, ist wesentlich, daß die Frage grundsätzlich nicht entschieden werden kann. Warhols Diptychon wirft damit kein geringeres Problem auf als das des Verhältnisses von Bild und Gegenstand. Denn ob das Bild (bzw. seine Darstellungsmodalität) oder aber der Gegenstand als solcher die markante Größendifferenz der beiden Dosen provoziert, bleibt unbestimmt und unbestimmbar. Mehr als die tautologische Erklärung: die rechte Dose erscheint kleiner, weil sie kleiner erscheint, ist nicht möglich. Die Aussage über den Gegenstand fällt mit der Aussage über das Bild zusammen. Das aber hebt nicht nur die Distanz zwischen dem Bild und dem dargestellten Gegenstand auf, sondern damit auch die Distanz zwischen dem Gegenstand und dem Betrachter.
Daß das Bild mit seinem Gegenstand verschmilzt, geschieht in gleichsam wörtlicher Weise auch durch die Identität der weißen Partie des Dosenetiketts mit dem Weiß des Bildgrundes. Das ist ein weiteres der Gestaltungsmittel, die Warhol häufig einsetzt. Mit ihm beschäftigt sich, unter anderem, der nächste Abschnitt.

Kombinatorik

In der Malerei fällt gewöhnlich die Gestaltung des Motivs, z. B. das Malen eines Menschen, mit der Anordnung dieses Motivs auf der Fläche des Bildes zusammen. Der Begriff der Komposition meint beides, als Untrennbares, zugleich. Warhol trennt diese beiden Aspekte der Komposition auf. Bei seinen Arbeiten erfolgt die Gestaltung des Motivs zunächst für sich, und zwar durch die entsprechende Gestaltung des Drucksiebs. Erst in einem zweiten Schritt, wenn das Sieb gedruckt wird, erfolgt die Übertragung auf einen Bildgrund. Die Flowers, die als umfangreiche Serie ab 1964 entstehen, lassen den zweigeteilten Kompostitionsvorgang sowie seine spezifischen Konsequenzen gut sichtbar werden (Abb. 20).
Ausgangspunkt für die Flowers ist eine Photographie von Hibiskusblüten, die die Zeitschrift »Modern Photography« 1964 publiziert. Bei den photomechanischen Ablichtungsvorgängen zur Herstellung des Drucksiebs steigert Warhol den Hell-Dunkel-Kontrast so lange, bis die Binnenzeichnung der Blüten fast ganz verschwunden ist. Was davon verbleibt, brennt er mit Ausnahme der Blütenzentren aus der Acetatfolien-Kopie heraus. (Die Acetatfolie ist die Reproduktionsstufe zwischen der photographischen Vorlage und dem Sieb; eine Art Diapositiv in der Größe des späteren Drucks, mit dem das Sieb belichtet wird.) Auf diese Weise läßt Warhol die Blüten zu leeren, nur durch die Außenkontur bestimmten Flächen werden – ein Merkmal, das bereits an der Figur des Seiltänzers und an der weißen Partie der Suppendosen zu beobachten war. Wird nun ein Flowers-Sieb auf eine Leinwand gedruckt, so kommt deren Grundierungsfarbe bei den »leeren« Blüten – und nur dort – ungebrochen zum Vorschein. Die Farbe des Leinwandgrundes wird so zur Farbe der Figur, der Blumen. Damit gewinnt Warhol die Möglichkeit, allein durch das Kombinieren des Siebs mit verschiedenfarbigen Leinwänden verschiedene Varianten der Blüten selbst zu erzeugen. Eine blaue Leinwand ergibt blaue Blumen, eine rote Leinwand rote usw.
Ein zweiter Aspekt von Warhols kompositorischer Kombinatorik entsteht durch das Drucken eines identischen Bildmotivs auf ganz unterschiedliche Formate. Die Marilyns z.B. existieren nicht allein als Quadrat von 1 m x 1 m (Abb. 11), sondern – unter anderem – auch als Rechteck von 50 cm x 40cm (Abb. 21). Diese beiden Formate wiederum sind Standardformate in Warhols Werk, die für ganz verschiedene Bildgegenstände Anwendung finden. Das Format 50 cm x 40 cm dient gleichzeitig auch für Suppendosen (Abb. 18), für Selbstbildnisse, für die einzelnen Tafeln der Jackie-Bilder (Abb. 22) usw. Das Format 1 m x 1 m hingegen ist die Normgröße für diverse Porträttypen: für die Starporträts (Abb. 11 u. 12), für das Porträt des Künstlerkollegen Joseph Beuys (Abb. 23), schließlich für die Auftragsporträts, die in den 70er Jahren zahlreich entstehen. Auch die Flowers existieren in ganz verschiedenen Formaten, wie der Blick in die europäische Erstpräsentation der Serie zeigt (Abb. 24). Der Durchmesser der einzelnen Blüten schwankt hier zwischen wenigen Zentimetern und mehr als eineinhalb Metern.
Erneut bedeutet »Komposition« die Kombination zweier unabhängiger Größen. War es vordem die Kombination von Motiv (bzw. Drucksieb) und Farbe, so ist es hier diejenige von Motiv und Format – wobei sowohl ein standardisiertes Format mit wechselnden Motiven wie auch ein identisches Motiv mit wechselnden Formaten kombiniert werden kann. Warhol trägt ein Moment von Zufälligkeit in die Beziehungen von Figur und Grund bzw. von Figur und Format, das für die traditionelle Tafelmalerei undenkbar ist. Es ist, als hätte Warhol das englische Wort für Drucksieb, »screen«, in seiner mehrfachen Bedeutung wörtlich genommen. »Screen« heißt gleichzeitig auch »Projektionsleinwand« oder »Bildschirm«, das Verb »to screen« nicht nur »siebdrucken«, sondern auch »projizieren«. Tatsächlich gleicht Warhols Bildkomposition einem Projektionsvorgang, bei dem das Dia- oder Filmbild sowohl in variabler Größe als auch auf variablen Grund projiziert werden kann.
Damit hängt auch Warhols häufige Verwendung eines Bildformates zusammen, das in der Malerei selten ist: des Quadrats. Als die stabilste und damit spannungsloseste Form einer rechteckigen Fläche ist das Quadrat für die Komposition eines Tafelbildes wenig geeignet. Es wird daher von den Malern meist gemieden. Warhol hingegen wertet die negativen Eigenschaften positiv:
»I like painting on a square because you don’t have to decide wether it should be longer-longer or shorter-shorter or longer-shorter: it’s just a square. I always wanted to do nothing but the same-size picture.. .« [»Ich mag das Malen auf einem Quadrat, denn man muß nicht entscheiden, ob es länger-länger oder kürzer-kürzer oder länger-kürzer sein sollte: es ist ganz einfach ein Quadrat. Ich wollte nie etwas anderes machen als das stets gleichgroße, gleichformatige Bild.. .«]
Die Gleichgültigkeit des Quadrats spielt Warhol in den Flowers auf verblüffende Weise aus – der dritte Aspekt der Kombinatorik. Wie an der Abbildung 24 ersichtlich ist, hängt er jedes der Flowers-Bilder andersherum. Dennoch scheint keines der Bilder auf der Seite oder gar auf dem Kopf zu stehen. Daß dies möglich ist, liegt zunächst am Motiv selbst. Zum einen die konzentrische Gestalt der einzelnen Blüten, zum anderen die Perspektive der Photographie, die lotrecht aufgenommen ist und die Blumen wie eine Wand vor Augen stellt, haben zur Folge, daß die Konstellation der vier Blumen keine eindeutige Ausrichtung besitzt und damit drehbar wird. Entscheidend jedoch ist, daß Warhol die ursprünglich rechteckige Photographie für die Flowers in ein Quadrat verwandelt. Zunächst schneidet er drei der ursprünglich sieben Blüten weg. Da die verbleibenden vier Blüten noch immer ein Rechteck bilden, löst er die zu sehr abseits liegende heraus und rückt sie näher an die anderen drei heran. Mit dem Quadrat erhalten die Flowers ein Format, das nun ebenfalls kein eindeutiges Oben und Unten, Links und Rechts besitzt. Die Eigenschaften des Motivs verbinden sich mit denjenigen des Formats, und Warhol kann die Bilder nun rotieren lassen, ohne daß die Drehung je als Verdrehung erscheint. Wird am Quadrat die Drehung als solche gar nicht sichtbar, liegt das Motiv der Blüten in jeder Lage richtig.
Nimmt man die drei Aspekte von Warhols kombinatorischem Verfahren zusammen, so zeigt sich, daß sich in den Flowers drei Bestimmungen, die für die Wahrnehmung eines Gegenstandes zentral sind, im Spiel der Varianten auflösen: die Farbe, die Größe und die Stellung im Raum. Die Blüten werden zu einer reinen Matrix, ihre Eigenschaften, mit Ausnahme des Umrisses, erhalten sie erst in der jeweiligen Kopie. Aus diesem Grund wirkt auch keines der Flowers-Bilder als bloße Verfärbung, Vergrößerung oder Verdrehung eines ursprünglichen, »richtigen« Zustandes. Jede Variante, ob groß oder klein, blau oder rot, so oder andersherum gedreht, erscheint ebenso gültig und »richtig« wie die andere. Und dennoch lassen die Bilder nur allzu offensichtlich werden, daß sie bloß die manipulierten Siebdruck-Kopien eines einzigen und eindeutigen Sachverhaltes sind. Daß sie alle auf derselben Photographie basieren, ist dafür Beleg genug. So formulieren die Flowers, die verschieden und zugleich dieselben sind, das Paradox invarianter Varianten.

Serialität

Neben der reproduktiven Herstellungsweise ist die durchgängige Serialität das zweite formale Merkmal von Warhols Arbeiten. Beide Merkmale sind dabei unmittelbar miteinander verknüpft. Denn als Druckmedium ist der Siebdruck nicht auf das einzelne, einmalige Bild angelegt, sondern auf das vervielfachte, serielle. Die hohe Fertigungszahl der Bilder, die in die Tausende gehen kann, ist somit gewissermaßen nur die Konsequenz aus der Fertigungsweise des einzelnen Bildes.
In Warhols Werk finden sich zweierlei Ausprägungen der Serialität. Da gibt es zunächst die serielle Folge von Einzelbildern mit demselben Motiv. Ein Beispiel dafür sind die soeben besprochenen Flowers. Trotz wichtiger Unterschiede, die vor allem den Aspekt der reproduktiven Serialität betreffen, kann eine Serie wie die Flowers den Werkserien anderer Künstler verglichen werden, etwa Claude Monets Bilder der Kathedrale von Rouen (1893194) oder Josef Albers Hommages to the Square (1950-1976). Wie diese wiederholen auch die Flowers ein identisches Thema in jeweils differenter Form. Die andere Ausprägung, in der sich die Serialität bei Warhol findet, ist diejenige von Thirty Are Better Than One, nämlich das mehrfache Wiederholen desselben Motivs in einem einzigen Bild. Diese innerbildlich seriellen Bilder stellen in der Geschichte der Serialität eine grundlegende Innovation dar. Sie können als Warhols eigenwilligste und zugleich provozierendste bildnerische Erfindung gelten. Nur diese zweite Art von seriellen Arbeiten soll im Folgenden zur Sprache kommen.
Warhols Technik der Bildherstellung verbindet nun nicht nur die reproduktive Entstehung der Werke mit deren Serialität, sondern sie verknüpft zugleich die seriellen Einzelbilder mit den innerbildlich seriellen Bildern. Warhols Assistenten Nathan Gluck und Gerard Malanga berichten übereinstimmend, daß Warhol die Leinwand vor dem Spannen auf die Rahmen, ja oft sogar vor dem Zerteilen in die Abschnitte der späteren Tafelbilder bedruckt hat. Um ein innerbildlich serielles Bild zu erhalten, genügt daher die Entscheidung, eine mehrfach bedruckte Leinwand nicht zu zerteilen, sondern als ein Bild zu belassen. Die Differenz der Serialitätstypen von Thirty Are Better Than One und der Flowers ist gewissermaßen nur eine Frage der Teilung der Leinwand.
Entscheidend an diesem Sachverhalt ist nun, daß das innerbildlich serielle Bild durch die simultane Präsentation mehrerer Drucke die reproduktive und serielle Herstellungsweise unmittelbar anschaulich werden läßt. Das Prinzip der Form eines solchen Bildes – die gitterförmige Reihung von Drucken – ist im Grunde ein Prinzip der Produktion. Bereits an Thirty Are Better Than One konnte beobachtet werden, daß damit neben dem Bildthema, das die erste inhaltliche Ebene bildet (hier z. B. die Mona Lisa), die Tatsache der seriellen Reproduktion zur zweiten inhaltlichen Ebene des Bildes wird.
An Warhols vielleicht frühstem Siebdruck, Baseball aus dem Jahr 1962 (Abb. 25), sei zunächst diese zweite Ebene der seriellen Wiederholung betrachtet. Zwischen den einzelnen Reproduktionen gibt es Unterschiede, sie sind bald heller, bald dunkler, einmal vollständig, ein andermal nur teilweise sichtbar. Die Veränderungen und Verschiebungen der Drucke dynamisieren das Bild. Die Figur des Schlagmanns scheint sich, ähnlich den Figuren in den Photo-Serien Eadweard Muybridges aus den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, zu bewegen (Abb. 26). Es ist dabei vor allem Warhols »Engführung« der Drucke, die den Eindruck von Bewegung evoziert. Baseball sei in dieser Hinsicht mit zwei anderen frühen Bildern, Suicide (1963; Abb. 27) und Optical Car Crash (1962; Abb. 28), verglichen. In Baseball »hetzten« die einzelnen Reproduktionen auf horizontalen Reihen über die Leinwand, die »Bewegung« der Reproduktionen entspricht also der Laufrichtung des Schlagmannes. In Suicide hingegen, das eine Frau zeigt, die aus einem Haus in den Tod springt, betrifft die »Engführung« nur die Vertikale, und überdies nur die untere Bildhälfte. Die Reproduktionen scheinen, dem Fallen der Frau analog, »hinunterzustürzen«. Optical Car Crash zeigt eine dritte Möglichkeit. Zusätzlich zum horizontalen »Kollidieren« der Drucke, das dem Aufprall des Wagens entspricht, wird hier über eine erste Schicht von grünen Reproduktionen eine zweite Schicht von roten Reproduktionen gedruckt, die gegenüber der ersten minimal verschoben ist. Die Bilder werden unscharf, der Aufprall »erschüttert« selbst sie. Der Car Crash wird, wie der Titel sagt, zum Optical Car Crash. In allen drei Fällen imitiert also die Abfolge der Drucke die Bewegung des dargestellten Motivs.
Die Analogie der beiden Bewegungen wird nun aber konterkariert durch die zweite Ebene des Bildes, durch das Dargestellte selbst. Denn bei näherer Betrachtung wird ersichtlich, daß sich auf der Seite des Dargestellten gar nichts verändert oder bewegt, sondern sich über die ganze Leinwand das gleiche Bild wiederholt. Damit endet die Ähnlichkeit von Warhols Bildern mit den Photo-Serien Muybridges. Dort verlaufen das photographierte Geschehen, die Abfolge der Bilder sowie die sukzessive Wahrnehmung durch den Betrachter parallel. Diese Parallelität ermöglicht es denn auch, das photographierte Geschehen zu verstehen und in seinem Ablauf zu rekonstruieren – eine grundlegende Bedingung für Muybridges Intention, mit Hilfe der Photographie die Bewegung von Mensch und Tier zu erforschen. Warhols Bilder hingegen erweisen sich in dieser Hinsicht als Täuschung. Über die Bewegung des Motivs erfährt man hier nichts. Denn aus der Kette der drei bei Muybridge analog geführten Bewegungen ist das wichtigste Glied, die Bewegung des Dargestellten, herausgebrochen. Baseball, Suicide und Optical Car Crash sind eine eigentümliche Verbindung von Bewegung und Stillstand. Die Bilder prozedieren zwar, zudem noch in der Art dessen, was sie zeigen, das Abgebildete aber verharrt in dem einen Augenblick, den die reproduzierte Photographie festhält. Das übliche Verhältnis von Bild und Dargestelltem kehrt sich um. Nicht das Dargestellte ist das Bewegte und das Bild das Statische, sondern das Dargestellte bleibt statisch, während nun das Bild sich bewegt. Das Bild tritt an die Stelle dessen, was es zeigt.

Sixteen Jackies

An einem thematisch komplexeren Beispiel seien die gestalterischen Mittel der Entkontextualisierung, der Kombinatorik und der Serialität in ihrem Zusammenwirken vorgeführt. Das Bild ist im vorhergehenden Kapitel bereits gestreift worden: Sixteen Jackies aus dem Jahr 1964 (Abb. 22).
Am 22. November 1963, einem Freitag, wird Präsident John F. Kennedy in Dallas bei einer nachmittäglichen Paradefahrt im offenen Wagen erschossen. Die Ereignisse folgen sich daraufhin Schlag auf Schlag. Kurze Zeit nach dem Attentat und noch in Dallas wird Vizepräsident Lyndon B. Johnson an Bord des Präsidentenflugzeuges in Gegenwart der Witwe, Jacqueline Kennedy, vereidigt. Er fliegt darauf unverzüglich nach Washington, um die Fortführung von Kennedys Politik anzukündigen und sich dessen Kabinett zu verpflichten. Noch am Tag des Attentats wird Lee Harvey Oswald als mutmaßlicher Täter verhaftet. Am 23. November wird Kennedys Leiche im Weißen Haus aufgebahrt, um am nächsten Tag, dem Sonntag, in feierlicher Prozession ins Capitol gebracht zu werden. Tausende nehmen dort am Sarg von ihrem Präsidenten Abschied. Während der Überführung in ein anderes Gefängnis wird Lee Harvey Oswald, dessen Täterschaft keineswegs feststeht, vom Nachtklubbesitzer Jack Ruby erschossen. Am Montag wird Kennedy schließlich in Anwesenheit zahlreicher Staatsoberhäupter bestattet.
Warhol setzt das Geschehen in der Serie der Jackies, die teils noch 1963, teils 1964 entsteht, in eine Mischung aus Porträt und Historienbild um:
»In the … heads I did of Jacqueline Kennedy …, it was just to show her face and the passage of time from the time the bullet struck John Kennedy to the time she buried him.« [»In den … Köpfen, die ich von Jacqueline Kennedy machte …, ging es darum, ihr Gesicht zu zeigen sowie den Ablauf der Zeit vom Augenblick, als die Kugel John Kennedy traf, bis zum Augenblick, als sie ihn bestattete.«]
Die Gestaltung der Bilder erfolgt auf dem für Warhol typischen Weg. Am Anfang stehen Pressephotographien, die entscheidende Augenblicke zwischen Freitag und Montag festhalten. Warhol wählt ausschließlich Aufnahmen, die auch die Gattin bzw. die Witwe des Präsidenten zeigen. Warhol schneidet nun alles weg, was auf den Photographien außer Jacqueline Kennedy zu sehen ist. Das ist nicht nur der größte Teil der Bilder, sondern oftmals deren eigentliches Zentrum, z. B. Kennedy vor der Fahrt durch Dallas oder Johnson im Augenblick der Vereidigung. Doch auch von der Gestalt Jacqueline Kennedys fällt das meiste weg, bis schließlich vom ursprünglichen Bild, z. B. demjenigen der Vereidigung Johnsons (Abb. 29), nur noch Jackies Gesicht übrig bleibt (vgl. die zweite Bildreihe von Sixteen Jackies). Diese »Bildreste« können dem Geschehen nur noch vage zugeordnet werden: die Aufnahmen der lachenden Jackie, so kann man schließen, dürften der Zeit vor der Ermordung des Gatten entstammen, diejenigen der ernsten Jackie hingegen der Zeit danach. Die Siebe, die Warhol von den photographischen Ausschnitten fertigt, druckt er auf jeweils vier Tafeln, die alle das Format von 50 cm x 40 cm aufweisen und entweder blau oder weiß grundiert sind.
Bei der Anordnung der Tafeln zum Gesamtbild läßt Warhol die chronologische Ordnung, die für die Schilderung von Ereignissen wesentlich ist, außer acht. Die oberste Reihe von Sixteen Jackies zeigt Jacqueline Kennedy unmittelbar vor der verhängnisvollen Fahrt durch Dallas. Dann folgen die Tafeln, auf denen Jackie im Augenblick von Johnsons Vereidigung zu Sehen ist. In der dritten Reihe steht Jackie vor dem Weißen Haus, in Erwartung des Trauerzuges zum Kapitol. Bis hierhin ist die chronologische Ordnung gewahrt. Die vierte Reihe springt nun aber zum Anfang zurück und zeigt erneut Jackie vor der Fahrt durch Dallas. Das politisch und historisch höchst bedeutsame Geschehen der Ermordung Kennedys verkürzt Warhol also nicht nur auf die Wandlungen von Jaqueline Kennedys Gesichtsausdruck, auf eine Emotionsstory von Fröhlichkeit und Trauer; in einem zweiten Schritt nimmt er dieser bereits minimalisierten Geschichte selbst noch ihre innere Kohärenz.
Die durch das Attentat ausgelöste Krise wird jedenfalls vom Fernsehen meisterlich bewältigt. Kurz nach Kennedys Tod beschließen die landesweit sendenden Kanäle ABC, CBS und NBC, alle laufenden und geplanten Programme auszusetzen und bis zum Begräbnis am Montag auf Direktsendung zu schalten. So entsteht die bis heute längste und aufwendigste Live-Sendung der Fernsehgeschichte. »Es war wahrscheinlich der Höhepunkt des Fernsehens. Ich kenne nichts, was vordem oder danach diese Spitzenleistung erreichte. … Ich war für die gesamte Berichterstattung verantwortlich. Es war eine schwierige Aufgabe, aber jedermann kooperierte; wir hatten Kameras an allen Orten, wir hatten Leitungen von überall her – die Berichterstattung und die Zusammenarbeit des Fernsehens war einfach absolut großartig«, so beschreibt J. Leonard Reinsch, Kennedys Medienberater, seine damalige Aufgabe. Die Vorfälle dieses Wochenendes sind bereits im Augenblick ihres Geschehens in ein Medien-Ereignis transformiert, der historische Einschnitt der Ermordung Kennedys ist zugleich der Höhepunkt der Fernsehgeschichte. Heute nennt man es Reality-TV: während ABC und CBS am Sonntag den Vorbeizug der Trauernden am Sarg senden, schaltet NBC auf die Überführung Lee Harvey Oswalds, so daß die Zuschauer dieses Senders dessen Erschießung live miterleben können.
Die Gründe für die Medialisierung der Ereignisse reichen jedoch tiefer. Das Fernsehen spielt in diesen Tagen eine bislang unbekannte Rolle im politischen, sozialen und emotionalen Leben der Nation. J. Leonard Reinsch nennt sie die Herstellung einer »Gemeinschaft der Anteilnahme«: »Alle – ob sie nun in Atlanta, in Georgia, in New York City oder in Keokuk, lowa, waren – empfanden und fühlten wie ein einziger Mensch. Sie fanden zusammen in ihrer Trauer um die ermordete Führerfigur, und sie spürten, daß sie an dieser tragischen Zeremonie beteiligt waren. Das Fernsehen brachte sie an Ort und Stelle.« Die Bilder sollen beruhigen, indem sie den Schock und die Verunsicherung durch das plötzliche politische Vakuum regelrecht überspielen. Zum einen wird die augenblickliche und unangefochtene Übertragung der Macht auf den Vizepräsidenten für jeden sichtbar vorgeführt. Gleichzeitig wird Jacqueline Kennedy in den Mittelpunkt der (medialen) Aufmerksamkeit gerückt. Auch sie ist eine Garantin der Kontinuität, vor allem aber wird sie zur emotionalen ldentifikationsfigur. Ihre Trauer und gleichzeitig ihre Tapferkeit stehen stellvertretend für die Gefühle aller. Und schließlich praktiziert das Fernsehen eine Art »Bewältigung durch Wiederholung«. Hat die Live-Übertragung gerade nichts zu berichten – was in diesen vier Tagen häufig der Fall ist -, werden die bereits vergangenen Szenen des Wochenendes jeweils von neuem gezeigt. Die unentrinnbare Wiederholung der Bilder wird so zum selbständigen Bestandteil der Erinnerung an diese Zeit.
Was die Leistung des Fernsehens anbelangt, kommt Kennedys Präsidentschaft zu einem würdigen, beinahe folgerichtigen Abschluß. Kennedy ist der erste Präsident, der die Bedeutung und die Möglichkeiten des neuen Mediums nicht nur erkennt, sondern sie auch positiv wertet und zielstrebig einsetzt. Bereits im Wahlkampf weiß er es klug zu nutzen. Daß Kennedy das erste und entscheidende der neugeschaffenen Fernseh-Duelle zwischen den Spitzenkandidaten für sich entscheidet, liegt vor allem an seiner außerordentlichen Telegenität, die seinem Kontrahenten Richard Nixon völlig abgeht. Dank zugespielten Informationen der Fernsehgesellschaft CBS vermag Kennedy diesen Vorteil noch auszubauen. Er erhält davon Kenntnis, daß die Studiowand, vor der die Redner während der Debatte stehen werden, weiß gestrichen ist sowie daß ihr Auftritt von starken Scheinwerfern beleuchtet sein wird. So erscheint Kennedy frisch gebräunt (von einer Wahltournee in Kalifornien) und in dunklem Anzug. Den Zuschauern präsentiert sich eine »profilierte« Gestalt. Nixon hingegen, der einen hellen Anzug trägt, verschwimmt förmlich im Hintergrund, und im grellen Scheinwerferlicht erscheint seine wächserne Haut (er hat gerade einen Krankenhausaufenthalt hinter sich) bleich und unrasiert. Zudem evoziert sein geschwächter Zustand eine geringere »Standfestigkeit«. Die besseren Argumente, die ihm die politischen Kommentatoren zubilligen, haben in dieser optisch eindeutigen Situation nur mehr wenig zu besagen. In einer Blitzumfrage nach dem Rededuell betrachten bezeichnenderweise diejenigen, welche die Debatte am Radioverfolgt haben, Nixon als Sieger, während die Fernsehzuschauer – schätzungsweise 75 Millionen – sich klar für Kennedy aussprechen. Bedenkt man, daß Kennedy mit einer Mehrheit von nur rund 100 000 Stimmen gewählt wurde (34 221 463 gegen 34 108 582 Stimmen), dann wird die Bedeutung des Sieges in diesem Fernseh-Duell evident. Kennedy räumt nach der Wahl denn auch ein, daß ihm der Sprung ins Weiße Haus womöglich dank diesem Auftritt gelungen sei. Mit solchen Vorfällen jedenfalls beginnt die umfassende Veränderung der (nicht nur amerikanischen) politischen Kultur durch das Fernsehen.
Sixteen Jackies reflektiert diese Veränderungen. Das Bild zeigt, ebenso wie die anderen Arbeiten der Serie, weniger das Geschehen als vielmehr dessen mediale Aufbereitung. Warhols »Historienbild« zeigt Historie im Zeitalter der Medien, zugleich ein Stück Medien-Historie.
»It didn’t bother me that much that he [Kennedy, M. L.] was dead. What bothered me was the way the television and radio were programming everybody to feel so bad«. [»Es beunruhigte mich nicht so sehr, daß er tot war. Was mich beschäftigte, war die Art, wie Fernsehen und Radio jedermann darauf programmierten, sich schlecht zu fühlen.«], äußert Warhol später.
Die Verschiebung zeigt sich an der Herstellungsweise des Bildes. Die Entkontextualisierung (die Reduzierung der photographischen Sachverhalte auf Jacqueline Kennedys Gesichtsausdruck) spiegelt die von den Medien forcierte Personalisierung und Emotionalisierung des Geschehens, die Verwischung der Grenzen von Politik und Hollywood. Die Kombinatorik (das Zeigen der verschiedenen Bildmotive im stets gleichen Raster von 50 cm x 40 cm) parallelisiert die Verwandlung eines realen Geschehens ins Fernsehbild. Dessen Bildschirm hat mit Warhols Tafeln gemeinsam, die Fülle des Sichtbaren im immergleichen Rahmen erscheinen zu lassen. Sowohl der genormte Bildschirm wie Warhols standardisierte Leinwand sind Projektionsflächen, die dem Gezeigten gegenüber indifferent bleiben.
In dieser Perspektive ist schließlich auch die serielle Anordnung der sechzehn Tafeln zu sehen. Es ist offensichtlich, daß Sixteen Jackies trotz der nicht durchgehaltenen chronologischen Ordnung keineswegs strukturlos ist, ganz im Gegenteil. Verschiedene formale Bezüge zwischen den einzelnen Bildreihen sind festzustellen. So wechseln sich die Farben weiß und blau gleichmäßig ab und ergeben eine Art »Reimschema«: a-b-a-b. Diesem »Reim« entspricht die Ausrichtung der Köpfe: rechts-links-rechts-links. Eine zweite Beziehungsform (mit dem anderen »Reimschema« a-b-b-a) entsteht durch die emotionale Abfolge von lachen-trauern-trauern-lachen. Die horizontale Mittelachse des Bildes ist im ersten und im zweiten Fall (weiß-blau bzw. rechts-links) die Stelle, an der sich diese Abfolge zu wiederholen beginnt, im dritten Fall (lachen-trauern) die Linie, an der sie sich spiegelt (trauern-lachen). Des weiteren werden die Bilder dadurch verklammert, daß die horizontalen wie auch die vertikalen Reihen aus jeweils vier Tafeln bestehen. Das stärkt nicht nur die formale Kohärenz, sondern bringt zugleich die Simultaneität der horizontalen Reihen (viermal derselbe Augenblick) mit der Sukzession der vertikalen Reihen (viermal ein anderer Augenblick) in einen Dialog. Und schließlich führt es dazu, daß auch die diagonale Lektüre (das »Querlesen«) dieselbe sukzessive Tafelabfolge mit denselben »Reimen« ergibt.
Die durchdachte Organisation von Sixteen Jackies ist kein Einzelfall. Sie ließe sich auch an anderen Bildern der Serie aufweisen. Wesentlich jedoch ist, daß die Ordnung der Bilder stets eine rein formale, gleichsam arithmetische ist. Mit der Ordnung der historischen Ereignisse hat sie nicht nur nichts zu tun, sondern ist sogar nur auf deren Kosten möglich. So stellt sich z. B. die spiegelbildliche Entsprechung von erster und letzter Bildreihe zwar der Chronologie entgegen, schließt dafür aber Anfang und Ende, Oben und Unten des Bildes symmetrisch zusammen.
Lachende Jackie, weinende Jackie, weinende Jackie, lachende Jackie, ad infinitum: die »Historie«, die Warhol erzählt, ist die Transformation eines Geschehens in ein Stakkato von simplifizierten, emotional aufgeladenen und unablässig wiederholten Bildern außerhalb jeden Zusammenhangs.
»[Television] is just a lot of pictures: cowboys, cops, cigarettes, kids, war, all cutting in and out of each other without stopping. Like the pictures we make.« [»[Das Fernsehen] besteht nur eben aus einer Menge von Bildern: Cowboys, Polizisten, Zigaretten, Kinder, Krieg, alles ein-, aus- und ineinandergeblendet ohne Ende. Wie die Bilder, die wir machen.«], sagt Warhol in einem Interview.
Das Bemerkenswerte an Sixteen Jackies aber ist, daß sich die Bilder trotz der seriellen Wiederholung und der zyklischen Wiederkehr nicht verbrauchen, sondern ihre Frische und Unmittelbarkeit bewahren. Diese eigentümliche Kraft liegt am Eigenleben, das sie in Sixteen Jackies entfalten, an ihrem Vermögen, eine »Geschichte« eigener Art zu erzählen. Sie entwickeln einen bildlichen Eigensinn, der sich vom primären Bildsinn (nämlich bestimmte, einmalige Ereignisse zu dokumentieren) emanzipiert und ihn zugleich überlagert. Das aber kennzeichnet bereits das Geschehen des Novemberwochenendes 1963 selbst, sind doch die Ereignisse, die sich in Sixteen Jackies unablässig wiederholen, immer schon Bilder gewesen, bestand doch deren Realität bereits für die Zeitgenossen in der »Realität« einer perfekt konstruierten Live-Reportage. Es ist diese Identität von Sein und (medialem) Erscheinen, die es jedem Bild ermöglicht, auch in der redundantesten Wiederholung das ganze Sein dessen hervorzubringen, was es zeigt. Darin tritt Jackie Kennedy, für Warhol »the most glamorous First Lady we’ll ever get« [»die zauberhafteste First Lady, die wir je haben werden«], einem Star wie Marilyn Monroe gleichberechtigt an die Seite.
»History«, schreibt Warhol in der Philosophy of Andy Warhol, »will remember each Person only for their beautiful moments on film – the rest is off-the-record.« [»Die Geschichte wird sich einer Person nur aufgrund ihrer schönen Momente im Film erinnern – das übrige fällt in Vergessenheit.«]

Einleitung
Kapitel I: Der Anlaß
Kapitel II: Die Vorläufer
Kapitel III: Die Einordnung
Kapitel IV: Die reproduzierte Mona Lisa
punkt Kapitel V: Pictorial Design
Andy Warhol - thirty are better tahn one - Pfeil Kapitel VI: Das Dilemma des Malens
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