Autonomie Académie Salon Velázquez Tradition

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Manets Reise zu Velázquez und das Problem der kunstgeschichtlichen Genealogie

in: Umwege. Ästhetik und Poetik exzentrischer Reisen, hrsg. von Bernd Blaschke, Rainer Falk, Dirck Linck, Oliver Lubrich, Friederike Wißmann und Volker Woltersdorff, Bielefeld 2008, S. 119-158.

Kapitel IV: Legitimität, Vaterschaft und Tradition, Teil 2

Der andere Bereich der Legitimitätskrise betraf Manets künstlerisches Metier. Es handelte sich um die Kehrseite der Autonomisierung der Kunst, in deren Geschichte sein Name besonders prominent erscheint.

Im Hinblick auf den künstlerischen Autonomisierungsprozeß sind im Frankreich des 19. Jahrhunderts zwei Phasen zu unterscheiden. Nach dem Ende des Ancien Régime und verstärkt in der Romantik ging es darum, die Malerei von der Aufgabe zu entbinden, eine gesellschaftliche Funktion zu erfüllen – einem Auftrag zu gehorchen oder einer Sache zu dienen, beispielsweise der Sache des Staates. Der zweite Schritt war entschieden radikaler. Manet – und nach ihm mancher Künstler der klassischen Avantgarden – wies die Verpflichtung zurück, in den eigenen Bildern überhaupt etwas aussagen zu müssen, was den herkömmlichen Auffassungen eines künstlerischen Sujets entsprochen hätte. Abgewehrt wurde insbesondere das ‚Literarische‘ im weitesten Sinne. War es in der Romantik, etwa bei Delacroix, noch allgegenwärtig, wurde es jetzt als aufzusprengende Umklammerung empfunden. Das Bild sollte auf keine Textquelle rückführbar sein, ja noch nicht einmal auf einen heteronomen ‚Diskurs‘, der von außen bestimmte, wonach sich seine Herstellung und seine Betrachtung zu richten hätten. Daraus erklärt sich die zunehmende Tendenz zur ‚Offenheit‘ und zum ‚Unvollendeten‘: Beides unterlief die Möglichkeit, dem Bild eine bestimmte Aussage abverlangen zu können. Bataille hat dies mit Blick auf Manets Malerei zu der Formulierung zugespitzt, deren Spezifik liege darin, jeden literarischen Sinn, aber auch jede Referenz auf tradierte Normen liquidiert zu haben: „Der Text“, so Bataille, „wird durch das Bild ausgelöscht. Und was das Bild bedeutet, ist nicht der Text, sondern dessen Auslöschung.“

Der augenfällige Rekurs auf Gemälde früherer Epochen verdeutlicht allerdings, daß Manet nicht nur bestehende Bindungen zerstörte, sondern ebenso nachdrücklich nach neuen suchte. In der normativen Leere, die durch den Niedergang der Académie des Beaux-Arts und durch die Autonomieforderungen der jungen Künstlergeneration entstand, wurde ungewiß, wer sich legitimerweise als Maler bezeichnen konnte und welche Sujets und Malweisen als Kunst zu gelten hatten. Bislang besaß die Académie das Monopol darauf, die ‚wahren‘ Künstler von den ‚anderen‘ zu scheiden. Dies zeigte sich nirgendwo deutlicher als bei der Kontrolle über den Salon, jener riesigen, meistens jährlichen Kunstschau, die damals beinahe die einzige Möglichkeit der Künstler war, ihre Werke auszustellen. Die Jury aus Akademieprofessoren und Regierungsvertretern entschied nicht nur, wer zugelassen wurde, sondern ließ die abgelehnten Werke rückseitig sogar mit einem roten ‚R‘ (für ‚refusé‘) stempeln, wodurch es fast unmöglich wurde, das Bild noch zu verkaufen. Gerade die heftigen Kämpfe, die zu Manets Zeit um die Zulassung zum Salon geführt wurden und beispielsweise 1863 Napoleon veranlaßten, einen Salon des Refusés einzurichten, bezeugten die schwindende Autorität der ehemals mächtigen Selektionsinstanz der Academie. In dieser unklaren künstlerischen Situation suchte Manet die Rückversicherung bei Malern der Vergangenheit, in deren Bildern er Vorläufer seiner eigenen Absichten zu entdecken glaubte. In Tizian und Rubens, vor allem aber in ‚maître Velázquez‘ erkannte er Wahlverwandte, deren nicht-akademische, zu jener Zeit jedoch wachsende Autorität seiner eigenen Malerei, welche die überlieferten Normen so offensichtlich zu mißachten schien, die künstlerische ‚maîtrise‘ verleihen sollte. Seine Orientierung an gerade diesen Künstlern dürfte dabei nicht nur stilistische Gründe gehabt haben. In ihnen erkannte er Persönlichkeiten, deren aristokratischer Habitus eine künstlerische Autonomie avant la lettre darzustellen schien. Sie prägten ein Künstlerbild vor, dem er – unter den anderen historischen Bedingungen des ‚Dandyismus‘ – selbst nachzuleben versuchte.

In Manets Malerei überschneidet sich das Bemühen, sich kunsthistorisch als Teil einer Tradition zu begreifen, mit der Thematisierung des eigenen Familienzusammenhangs. Nancy Locke gelang es, aufgrund der Erhellung von Manets prekärer familiärer Situation Schlüsselbilder des Œuvres neu zu deuten. Dabei konnte sie zeigen, daß sich Manet immer wieder dem Thema der Familie zuwandte, ohne daß die Bilder je Familienbildnisse geworden wären, sowohl weil jeweils familienfremde Modelle hinzutraten als auch weil die repräsentierten familiären Rollen offen blieben. Locke deutete dies als künstlerische Realisierung einer ‚alternativen‘ Familie. Bezeichnend für diese Quasi-Familienbildnisse ist die Häufigkeit, mit der Léon Leenhoff darin erscheint. Dabei fällt auf, daß er jeweils randständig positioniert wurde, beispielsweise im Déjeuner dans l’atelier vor den anderen Figuren, im Balcon hingegen im Zimmerdunkel hinter ihnen. Sich selbst integrierte Manet kaum je in diese Figurenkonstellationen. So ist die männliche Figur im Déjeuner dans l’atelier, obschon es den Raum zeigt, in dem Manet das Bild malte, nicht dieser selbst, sondern ein befreundeter Maler. Die kaffeebringende Frau wiederum ist nicht Suzanne Leenhoff, wie zuweilen vermutet wurde, sondern ein unbekanntes Modell. In einem Bild wie dem Déjeuner schuf Manet das Bild eines familiären Zusammenhangs, der im realen Leben fehlte. Gleichzeitig wurde dieser innerbildliche Zusammenhang aufgebrochen, einerseits durch die Heterogeniät des Personals, andererseits durch eine Bildkomposition, die in irritierender Weise offenläßt, in welchen Beziehungen die Figuren untereinander und zum Raum außerhalb des Bildes, wo Manet als Maler sich situierte, stehen. Das Déjeuner dans l’atelier zeige, so die Formulierung Michael F. Zimmermanns, zugleich „die unmögliche Stellung des Sohnes im familiären Dreieck und die unmögliche Beziehung des Vaters zum Sohn“.

Wie aber stand es um die künstlerische Genealogie? Der Besuch jener Künstlergruppe, die ihn 1861 wegen des Chanteur espagnol im Atelier aufsuchte und zum Kopf ihrer Bewegung erklärte, beweist, daß es Manet im Feld der Kunst gelang, sich als ‚Vaterfigur‘ zu etablieren. Der sich etablierenden Avantgarde der 1860er Jahre erschien Manet als Autorität, auf die sich die Nachkommenden berufen konnten. Dieser Rang, mit seinen Gemälden das ‚Vorwort zur Zukunft‘ geschrieben zu haben, wurde ihm seither immer wieder zuerkannt – als eine der höchsten Auszeichnungen, welche die Kunstgeschichtsschreibung zu vergeben hat.

Unerledigt blieb jedoch das Problem des künstlerischen Herkommens, der ‚Sohnesschaft‘ seiner Kunst. Besonders der Aufschrei angesichts der Olympia, die nicht nur als Verhöhnung des Sittlichen, sondern auch der Kunst aufgefaßt wurde, mußte Manet offenbaren, daß der Versuch, die eigene Malerei durch den Rekurs auf ältere Bilder kunsthistorisch zu legitimieren, gescheitert war. Mochte er sich selbst in die Tradition der ‚grande peinture‘ stellen – die Öffentlichkeit folgte ihm darin nicht. Aufgrund ebendieser Erfahrung brach Manet nach Madrid auf. In seiner Verunsicherung, die Suzanne Manet in einem Brief an Baudelaire als „Sorgen meines armen Édouard über seine Zukunft“ beschrieb, wandte sich Manet an jene Autorität, die ihm seit Studientagen als die überragende galt. Hatte Manet bislang lediglich zweifelhafte Gemälde oder aber druckgraphische Reproduktionen von Velázquez gesehen, sah er sich nun mehreren Dutzend gesicherten Arbeiten gegenüber, unter denen sich auch die Hauptwerke befanden – eine Präsenzerfahrung, die Manet, wie die Briefe bezeugen, überwältigte. Doch sie warf ihn nicht nieder, im Gegenteil. In jenem Brief, den er an Astruc schrieb, faßte er den Bezug zu Velázquez in Worte, die an Baudelaires Beschreibung seines Verhältnisses zu Edgar Allen Poe erinnert: In Velázquez habe er die Verwirklichung seines Ideals in der Malerei gefunden. Die mutige Filiation, die er zwischen sich und ‚maître Velázquez‘ über die Jahrhunderte und die kunsthistorischen Zusammenhänge hinweg herstellt, überbietet er noch durch die Kühnheit, sich selbst als Träger des Ideals, Velázquez hingegen als dessen Realisator zu bezeichnen. Dieser Umkehrung gemäß war Manet gerade nicht der Imitator, als welcher er kritisiert wurde, sondern es war Velázquez, der ihm, Manet, glich.

Die in Manets Worten erzeugte Ambivalenz, wer in wessen Abhängigkeit stand, sollte durch die Wiederentdeckung von Velázquez‘ Malerei im 19. Jahrhundert, die Manet so entschieden förderte, bald auch das offizielle Bild des spanischen Malers prägen. Hatte sich Manet in Velázquez eine kunsthistorische Herkunft zu sichern versucht, verschaffte umgekehrt der Zuspruch der Nachgeborenen Velázquez eine überraschende Gegenwart, ja sogar eine unerwartete Zukunft. Wenige Jahre nach Manets Tod schrieb Paul Lefort, als Inspecteur des Beaux-Arts eine der offiziellen Stimmen in der Kulturadministration der Dritten Republik, in seiner Monographie über den Maler, dieser sei seiner Zeit so deutlich voraus, daß er eher der gegenwärtigen anzugehören scheine. Man sei sogar versucht zu sagen, er spreche die Sprache der Zukunft, welche die Avantgarde gerade erst zu stammeln begonnen habe. Velázquez war zum Modernisten avant la lettre geworden, auch er schien jenes ‚Vorwort zur Zukunft‘ verfaßt zu haben, das man rückblickend auch in Manets Œuvre zu erkennen glaubte.

Einleitung
Kapitel I: Spanien in Paris
Kapitel II: Der Zögling Goyas
Kapitel III: Maître Velázquez
Kapitel IV: Legitimität, Vaterschaft und Tradition, Teil 1
Punkt Manet Velazquez Kapitel IV: Legitimität, Vaterschaft und Tradition, Teil 2
Manet Velazquez Kapitel V: Velázquez als ‚innere Figur‘, Teil 1
Kapitel V: Velázquez als ‚innere Figur‘, Teil 2
Kapitel VI: Tradition und/oder Modernität
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