Claes Oldenburg The Store ästhetische Grenze

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Die Kunst und ihr Außen – Am Beispiel von Claes Oldenburgs The Store

in: Zwischen „U“ und „E“. Grenzüberschreitungen in der Musik nach 1950, hrsg. von Friedrich Geiger und Frank Hentschel, Frankfurt am Main 2011, S. 173 – 194.

Kapitel VII: Die Die Störung der ästhetischen Grenze

„Ich empfinde es als natürlich“, sagte Claes Oldenburg, „unter den Bedingungen der amerikanischen, technischen Zivilisation zu arbeiten. Ich kenne die jeweiligen Effekte, die jeweiligen Resultate der technischen Arbeitsverfahren, und ich glaube sie zu kontrollieren.“ Trotz der Nüchternheit dieser Selbstbeschreibung machte Oldenburg eben diese Bedingungen der amerikanischen Zivilisation für die Isolation und Entfremdung der sozialen Subjekte im Allgemeinen und des Künstlers im Besonderen verantwortlich. Er hoffte jedoch, diese widrigen Umstände überwinden und den Zusammenschluss von Kunst und Leben erwirken zu können. Verwirklichen wollte er diesen Zusammenschluss durch eine, wie er es formulierte, „erotisch-politisch-mystische Kunst“, die Mensch und Ding miteinander versöhnen sollte:

„This elevation of sensibility above bourgeois values, which is also a simplicity of return to truth and first principles, will (hopefully) destroy the notion of art and give the object back its power. Then the magic inherent in the universe will be restored and people will live in sympathetic religious exchange with the materials and objects surrounding them. They will not feel so different from these objects, and the animate/inanimate schism mended.“

Obschon Oldenburg das Prinzip der gesellschaftlichen Arbeitsteilung im Store nicht aufheben konnte, so ließ es sich doch durch die Spaltung in seine zahlreiche Rollen unterwandern. Und entsprechend zu seinem künstlerischen Ich, das sich in unterschiedliche nicht zu vereinbarende personae aufteilte, sollten auch seine Objekte Gegensätze abbauen und Widersprüche einebnen. Ein Objekt sollte seine Spuren im anderen hinterlassen, so dass sich in der gegenseitigen Anleihe Formen, Farben und Bedeutungen überlagern. Oldenburg wollte auf diese Weise eine Kraft freisetzen, die alles durchdringt, indem sie die bestehenden Ordnungen deklassiert – nicht zuletzt die gesellschaftliche Ordnung, und darin eingeschlossen deren Auffassung künstlerischer Produktion.
Oldenburg konzipierte den Store mithin als Schwellenraum, in dem sich Momente von ‚Kunst‘ und Momente von ‚Nicht-Kunst‘ überlagerten; er desorganisierte die klare Relation von Fiktion und Realität, indem er den Bereich seiner Tätigkeit auf den des Warenhandels ausdehnte. Die hierdurch erzeugte kategoriale ‚Unordnung‘ betraf dabei nicht nur die Objekte selbst, sondern zugleich den Modus ihrer Präsentation.
Durch den Einzug in einen realen Geschäftsraum fiel der kunstinstitutionelle Rahmen als Vorbedingung und Signalgeber für eine ästhetische Einstellung des Betrachters weg, die Entgegensetzung von äußerer Welt und Kunstraum war nicht mehr gegeben. Wer den Store betrat, befand sich nicht in ästhetischer Distanz zu den Dingen, sondern bewegte sich auf dem gleichen Terrain wie die Artefakte, wobei das Terrain zwischen Laden, handwerklichem Betrieb, Galerie, Atelier und Environment schwankte. Für den Rezipienten bedeutete dies, dass sein Verhältnis zum Werk unsicher wurde: Seine Position war zugleich innerhalb und außerhalb, er war zugleich Betrachter eines Kunstwerkes, potenzieller Käufer von Kunstartikeln und Teil eines Environments. Wer seinen Blick durch das Schaufenster zurück auf die Straße richtete, verstrickte sich in die Frage, ob er sich auf der richtigen Seite befand, ob er mit dem ‚Einstieg‘ in Oldenburgs ‚Bild‘ nicht selbst Teil einer Fiktion geworden war. Die Realität war plötzlich dort, wo normalerweise das Fiktive ist, nämlich innerhalb des ‚Rahmens‘, das Fiktive dagegen dort, wo sich gemeinhin das Reale befindet, nämlich außerhalb des ‚Rahmens‘, jenseits der ‚Bildes‘.
Eine letzte Unsicherheit bezog sich auf das quod des Kunstwerks, auf dessen eigene Grenzen und Rahmungen: Hatte man eher die einzelnen Objekten oder aber die Gesamtheit des Store als Kunstwerk zu identifizieren, handelte es sich eher um eine Galerie, die Einzelwerke ausstellte, oder aber um ein geschlossenes Ganzes? War man mit einem Kunstwerk, das einen Laden nachahmt, konfrontiert, oder mit einem Laden, der Kunstartikel verkauft? Waren die Plakate und Visitenkarten Teil des Kunstwerks oder lediglich Instrumente des Marketing?
Der Store konnte nach damaligem Verständnis weder bloßes ‚Geschäft‘ noch reine ‚Kunstbetrachtung‘ bieten. Dies entsprach Oldenburgs Wunsch, weder bloße Konsumgüter noch reine Kunstartikel zu produzieren, sondern sich in einer begriffslosen, nur negativ fassbaren und damit nicht zu vereinnahmenden Zone zu situieren. In kunstinstitutioneller Perspektive gesehen war diese Irritation der eigentliche Inhalt, das ästhetische Programm dieses Projekts. Damit bewegte sich Oldenburg auf einer Grenze, die gerade als solche auf die Differenz von Kunst und Leben angewiesen blieb. Bis heute bleibt es schwer, den Store in seinem Charakter zwischen Galerie, Environment und Happening zu fassen.
Ursprünglich hatte Oldenburg geplant, die Laufzeit des Store auf den Monat Dezember des Jahres 1961 zu beschränken, doch hielt er ihn aufgrund des hohen Besucherandrangs bis Ende Januar 1962 geöffnet. Gleichwohl konnte nur ein kleiner Teil der ‚Waren‘ veräußert werden, und die Abschlussbilanz belief sich auf ein Defizit von 285 US-Dollar. Die Produkte mussten erst in den Kunstkontext integriert werden, um nicht nur symbolischen, sondern auch ökonomischen Gewinn abzuwerfen – heute erzielen sie Spitzenpreise auf dem Markt der Kunst.

Einleitung
Kapitel I: Die institutionelle Perspektive
Kapitel II: Die mediale Perspektive
Kapitel III: Die Popularität der Kunst, oder: Gibt es in der bildenden Kunst einen Bereich des ‚U‘?
Kapitel IV: Die Kunst und ihr Außen
Kapitel V: Ein konkretes Beispiel: Claes Oldenburgs ‚The Store‘
Kapitel VI: Die ‚Beseelung‘ der Dinge
Punkt Kapitel VII: Die Störung der ästhetischen Grenze
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