Dieter Goltzsche Zeichnung Gegenständlichkeit Abstraktion

Goltzsches Linie als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 12.651 KB)

Goltzsches Linie

in: Dieter Goltzsche. Blauer Pfirsich. Arbeiten auf Papier, hrsg. von Sigrid Walther und Gisbert Porstmann, Ausstellungskat. Städtische Galerie Dresden – Kunstsammlung Dresden, Dresden 2016

Kapitel III: Goltzsches Linie – exemplarisch

Wie nun manifestiert sich die semantische Komplexität einer als »autonom« begriffenen Linie im einzelnen Blatt? Greifen wir hierfür eine von Goltzsches Tuschezeichnungen heraus, die in besonders auffälliger Weise allein aus dem Ineinander einzelner Linien besteht: das mit Rohrfeder gezeichnete Blatt Tagebau von 2012 (Abb. S. 25). Wie bei sämtlichen Zeichnungen Goltzsches – und auch dies ist ein Indiz für die moderne Autonomisierung der Zeichenkunst, in deren Tradition Goltzsche steht – handelt es sich bei Tagebau nicht um eine Vorstudie, sondern um ein eigenständiges, in sich abgeschlossenes Werk. Die zeichnerische Geste, in welcher die Dinge – eine Höhlung im Berg, ein Baum, eine Hügellinie oder eine Wolke – Kontur gewinnen, zielt nicht auf gegenständliche Vollständigkeit. Viel eher legt sie es darauf an, die Linie kontinuierlich von einem Gegenstand zum nächsten zu führen, mit der Folge, dass die Kohärenz dieses Landschaftsmotivs weniger als gegenständlicher Zusammenhang begreiflich gemacht wird, sondern vielmehr als Zusammenhang eines Linienverlaufs. Obschon das Motiv des Kohlebergbaus durchaus Anlass dafür geboten hätte, verzichtet Goltzsche auf jede plastische Modellierung des Motivs, bis zur vollständigen Auszehrung des Raums, der nicht als In- und Gegeneinander von positiven und negativen Volumina erscheint, so wie es bei einem Tagebaugelände der Fall ist, sondern eher als eine Konstellation leerer Zwischenräume. Die Zeichnung besticht ebenso durch das Weggelassene wie durch das Gezeigte: durch das Wiedererkennenkönnen eines Förderbandes ebenso wie durch die bloßen Rahmungen von unberührtem Blattweiß. Folgt man dem Verlauf der bald dickeren, bald trocken auslaufenden Linien, pulsiert das Motiv zwischen Entstehen und Vergehen, da wir seines »Körpers«, ja seiner Gegenständlichkeit insgesamt, nie wirklich habhaft werden können. Die Linien emanzipieren sich immer wieder vom Gegenstand, um eigene Wege zu gehen, ohne indes den Bezug zum Motiv abstreifen zu wollen. Die grundsätzliche, jede Linie kennzeichnende Spannung zwischen materiellem Zeichen und bezeichnetem Gegenstand, zwischen ästhetischem Eigenverlauf und Darstellungsfunktion wird von Goltzsche entschieden verstärkt – was dazu führt, dass das permanente Umschlagen der Linie zwischen den beiden Auffassungsweisen zum Wahrnehmungsereignis wird. Eine weitere Oszillation kommt hinzu: In Tagebau schillert die Linie nicht nur zwischen autonomem Eigenverlauf und dem Darstellen des Motivs. Sie oszilliert zugleich zwischen einer »Seismographie« des Gesehenen und der Wiedergabe eines inneren Bildes, da die Zeichnung nicht vor dem Motiv, sondern aus der erinnernden Vorstellung entstand.

Zum einen bleibt die konkrete Gegenständlichkeit des Motivs ebenso irritierend offen wie dessen Einbettung in den gegebenen Landschaftsraum. Zum anderen aber wird diese Offenheit ausgeglichen durch die Positionierung der Zeichnung innerhalb des Zeichenblattes. Die Proportionalität der umrissenen Felder ist ebenso leichthändig wie sicher darin verankert, indem sowohl die horizontal und vertikal als auch die diagonal verlaufenden Striche auf das Bildfeld des Aquarellpapiers bezogen sind. Insgesamt findet dieser Tagebau, überspitzt gesagt, weniger in einer Landschaft als vielmehr im Geviert dieses Blattes statt. Damit aber gewinnt der Zeichengrund eine überraschende Konkretion: Das Blatt selbst, und nicht ein imaginärer Raum jenseits davon, ist der Ort, den das Motiv »bewohnt«. Der Zeichengrund verwandelt sich von einem neutralen Medium, das dem Erscheinen imaginärer Räume und Körper dient, zu einem Feld, das gerade nicht durch Neutralität gekennzeichnet ist, sondern bereits vor der ersten zeichnerischen Markierung eine interne Struktur aufweist, beispielsweise die unterschiedliche ästhetische Wertigkeit des oberen und unteren Bildrandes oder die Diagonalen, welche die gegenüberliegenden Bildecken virtuell miteinander verbinden. Goltzsches Zeichnung rechnet mit diesen immanenten Kräften des Blattfeldes und setzt das Gezeichnete dazu in Relation. »Neuerdings«, so Goltzsche, »beginne ich viele Zeichnungen so, dass ich mir zunächst die Maßhaftigkeiten des Blattes verdeutliche. Ich habe das neu gelernt, obschon es aus einer ganz alten Ecke kommt.« Goltzsches zeichnende Hand reagiert folglich auf zwei ganz unterschiedliche Realitäten, die es im Zeichenduktus miteinander zu vermitteln gilt: einerseits die phänomenale Erscheinungsweise des Modells, das ihm vor dem (inneren) Auge steht, andererseits die proportionalen Eigenheiten des Blattfelds, über das er die Rohrfeder führt. Die Maßverhältnisse, die Goltzsche in Tagebau – oder, diesbezüglich besonders einschlägig, in dem Blatt Altes Signal (Abb. S. 25) – realisiert, stehen vermittelnd zwischen der zweidimensionalen Flächenordnung und der dreidimensionalen Ordnung des Motivs. Da das Liniengefüge der Zeichnung, sei es in Tagebau oder in Altes Signal , an jeder Stelle beiden Ordnungen zugleich angehört, springen Flächenordnung und Raumordnung beständig ineinander um. Dabei steht die »Klarheit« der Federstriche umgekehrt proportional zur »Unklarheit« des gegenständlichen Motivs, sodass sich das Umspringen von Fläche zu Raum und von Lineament zu Motiv nie zu einer Figuration verfestigen kann, die sich von der anschaulichen Gegebenheitsweise der Zeichnung lösen und für sich selbst stehen könnte.

Eine Zeichnung wie Vorgebirge von 1977 (Abb. S. 26) – mit einer Breite von knapp fünfzig Zentimeter eine der größeren in Goltzsches Oeuvre –, zeigt einen weiteren wesentlichen Aspekt seiner Zeichenkunst, nämlich die Eigenart, sehr unterschiedliche Linienformen miteinander zu kombinieren. Allein schon das verwendete Zeicheninstrument, ein Pinsel, führt hier zu erheblichen Unterschieden zum Tagebau -Blatt, etwa demjenigen, dass sich hier Zeichnen und Malen berühren und neben der Linie eine zweite »Urform« zeichnerischer Markierung, der »Fleck«, eine ebenso bildkonstitutive Rolle spielt. Das Ineinander von Zeichnen und Malen verändert aber auch die Linien selbst. So erscheint der bilddominierende gestufte Balken nahe der horizontalen Bildmitte halb als gezogener Strich, halb als ausgemalte Fläche, was ihm eine wie »gebaut« wirkende Solidität verleiht. Dagegen verdankt sich die Hügellinie, die vom linken oberen Bildrand in einem Doppelschwung herabführt und dem schwarzen Balken antithetisch entgegenläuft, einer einzigen, kontinuierlich ausgeführten Geste. Und während der schwarze Balken isoliert im Bildraum liegt, bezieht sich die doppelt geschwungene Linie unmittelbar auf die unterhalb ihrer liegenden dunklen Flecken, welche sie zur geschlossenen Hügelform zusammenbindet. Zwischen den unterschiedlichen Markierungen der Bildfläche vermitteln leer gelassene Zonen, die für die räumlichen Effekte der Zeichnung ebenso substanziell sind wie die Markierungen selbst. Durch die umgebenden Tuschemarkierungen gewinnen diese Leerstellen zuweilen eine Form, die sie als »negative« Entsprechungen zu den Tuschemarkierungen erscheinen lässt – beispielsweise im Falle des leer gelassenen Streifens direkt unterhalb des schwarzen Balkens oder im Falle des hellen Himmelsstreifens nahe der oberen rechten Ecke. Vorgebirge konstituiert sich aus individuellen, je besonderen Linienverläufen sowie aus deren bald konsonantem, bald dissonantem »Zusammenlaufen«; es ist, in Goltzsches eigenen Worten, »das Herstellen einer Zeichnung aus Linien, die sich ihrerseits erst bilden und sich dann verschieden begegnen«.

Kapitel I: Das Anfängliche der Linie
Kapitel II: Die autonomisierte Linie – ästhetisch und politisch
Goltzsches Linie Kapitel III: Goltzsches Linie – exemplarisch
Goltzsches Linie Kapitel IV: Die Fragilität der Zeichnung
spacer
Goltzsches Linie als Druckversion (PDF mit Abb. u. Fn. 12.651 KB)