Fontana Tagli Rückseite Notate Ausdruck

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Fontanas Schnitte

in: Bild-Riss. Textile Öffnungen im ästhetischen Diskurs, hrsg. von Mateusz Kapustka, Textile Studies, Band 7, Edition Imorde, Emsdetten/Berlin, 2015, S. 25-38.

Kapitel 4: Der Schnitt als Äußerung – und Fontanas rückseitige Notate

Sieht man Fontanas Schnitt-Geste unter dem Aspekt subjektiver Expression, wird deutlich, dass der Schnitt nicht nur ikonoklastisch ist, sondern zugleich eine ausdrucksästhetische Deutung der Kunst als Entäußerung ihres Autors unterläuft – oder diese Deutung zu radikalen Schlüssen zwingt. Denn wollten wir im Schnitt den Spiegel des Subjekts, das ihn hervorbrachte, erkennen, erwiese sich das Subjekt als eben jenes ‚Nichts‘, das der Schnitt in der Leinwand erzeugt.

Den Schnitt als subjektiven Ausdruck aufzufassen, gewinnt allerdings an Plausibilität, sobald wir entdecken, dass Fontana die Rückseiten der Tagli mit überraschenden Notaten versah. In ihnen manifestiert sich ein eigentümlich alltägliches Reden, das nicht zu der stummen Geste des Schlitzens passen will und das häufig beschworene Bild des Künstlers als „Zen-Meister“ irritiert. Die Notate – je eines pro Bild – kreisen um das hic et nunc von Tagesbefindlichkeiten, Unternehmungen, Vorlieben und Stimmungen: „Es gefällt mir, ein Tagedieb zu sein“ (67T46), „Mozarts Zauberflöte, welches Wunder!! Schmerzt mich das rechte oder das linke Bein?“ (67T52), „Ich warte auf den Gärtner der Seele“ (67T70), „Nieren mit Petersilie bekommen mir nicht gut“ (67T75), „Freihändig Fahrrad fahren tue ich gerne“ (67T11), „Ich bin müde, ich gehe schlafen“ (64T14), „Arbeiten, arbeiten, warum? Für wen? Zum Teufel mit der Arbeit…“ (67T57). Sie halten das Wetter, bestimmte Ereignisse oder schlicht den Wochentag fest: „Heute ist ein trauriger Tag ohne Sonne“ (64T73), „Russische Raumsonde erreicht Venus“ (66T119), „Teresita hat Autofahren gelernt“ (64T27), „Der Einfluss Chinas auf die sowjetische Politik… Marina Vlady in Rom“ (64T48), „Heute ist Freitag, morgen Samstag“ (64T17). Dann wieder werden Regeln und Weisheiten des Alltags aufgeschrieben: „Wenn es kalt wird, muss man die Heizung einschalten“ (64-65T43), „Wer schläft, fängt keine Fische“ (64-65T34), „Die Einsamkeit des Alters ist schlimmer als der Tod“ (64T119), oder aber Bemerkungen zur Kunst notiert: „Die Pop-Art, wie langweilig“ (64T109), „Wohin kommen wir mit der Kunst?“ (66T99), „Verstehe ich wirklich nichts von Malerei?“ (66T96). Es gibt Liedanfänge: „Mamma mia dammi cento lire che in America voglio andar …“ (64T154) und Fragespiele: „Amerika wurde von Garibaldi entdeckt… Esel!!“ (64-65T1). Daneben finden sich aus jedem Zusammenhang gerissene Reihungen wie „Achtunddreißig, Neununddreißig, Vierzig“ (66T77) oder „Heute, morgen, irgendwann“ (64T12) sowie Wortspiele, z.B. mit dem eigenen Namen: „Fontana, Fontanella, Fontanone, Fontana“ (65T142), und immer wieder eigentümliche Formeln wie „1+1-LLTA3“ (63T29) oder „1+1-ZXY“ (63T35), wobei es sich dabei wohl weniger um Kalkulationen handelt, die entschlüsselt werden könnten, sondern um den Niederschlag derselben Lust am Reden und Kritzeln wie bei den übrigen Notaten. So steht neben der Formel „1+1-7777“ als Kommentar: „Mir gefällt die Ziffer 7“ (64T2) – mit der Folge, dass Fontana sie gleich viermal hintereinanderschreibt.

Was sich hier artikuliert, erscheint als Kehrseite – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne – des Schnitt-Aktes. Das rückwärtig Aufgeschriebene erweist sich als Versammlung von mehr oder minder Trivialem, das kaum etwas über das Individuum Fontana und gar nichts über die künstlerischen Absichten der Tagli aussagt. Die Notate scheinen nicht in der referenziellen Funktion zu stehen, einen Inhalt mitzuteilen oder das Bild, auf dessen Rückseite sie geschrieben sind, in einen Sinnzusammenhang einzubetten, sondern vielmehr in der phatischen Funktion, auch dann etwas zu sagen, wenn einem gerade nichts einfällt, als sei das Ziel des Redens das Aufrechterhalten des Redeflusses selbst. Dieser Redefluss trägt aber auch Züge einer Befreiung. Nach dem ‚rite de passage‘ der Durchquerung der Leinwand, angekommen auf der verborgenen Rückseite des Bildes, lässt es sich unbeschwert sprechen, darf sich das Ich ohne Repression in jener Tatsächlichkeit artikulieren, die das Banale, das Spielerische und das Unsinnige selbstverständlich und lustvoll einschließt.

Vor der Gegenfolie der rückwärtigen Notate, in die sich das Ich zerstreut, erscheint der Schnitt in die Leinwand als dessen Negation: als Ausdrucksballung, das nicht dieses oder jenes, sondern alles auf einmal zu ‚sagen‘ versucht, aber dadurch jeden bestimmbaren Inhalt preisgibt und sogar das Medium der Artikulation, den Bildträger, angreift. Was jedoch beides, die heitere Zerstreuung und den stummen Schnitt, verbindet, ist die Unmöglichkeit, ‚es‘ – die Substanz, das Ganze, dasjenige, was die Welt und das Subjekt in Kontakt zueinander bringt – auszudrücken. Psychostrukturell verbinden sie sich in ihrer Eigenart, Intimität und Äußerlichkeit, Fülle und Nichtigkeit zusammenfallen zu lassen.

Einleitung: Modernistische ‚flatness‘ und ihr Widerruf
Kapitel I: Fontanas Fund
Kapitel II: Der Schnitt als Schwelle
Kapitel III: Die zwei Ordnungen des Schnitts: ikonisch und performativ
Fontana Kapitel IV: Der Schnitt als Äußerung – und Fontanas rückseitige Notate
Fontana Kapitel V: Transzendenz und Immanenz des Unendlichen
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