Materie Form Valéry Stella Oldenburg

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Zwei Aspekte der Formdynamisierung in der Kunst der Moderne

in: Form. Zwischen Ästhetik und künstlerischer Praxis, hrg. v. Armen Avanessian, Franck Hofmann, Susanne Leeb und Hans Stauffacher, Zürich/Berlin 2009, S. 167-188.

Kapitel II: Materie/Form: Die Dynamisierung des Kunstwerks als Artefakt

Unter dem Eindruck der Kunst seiner Zeit unternahm Paul Valéry eine Neubestimmung des traditionellen Begriffs der ‚Poetik‘. Während die klassische Kunst, so Valéry, darunter ein Regelwerk verstanden habe, dem der Künstler folgen solle, sei der Begriff auf ein zeitgemäßes Verständnis zu heben, indem er auf seine etymologische Wurzel zurückgeführt werde: auf das griechische Verbum ‚poiein‘, ‚machen‘, als dem eigentlichen Zentrum der Kunst. Wovon eine solche ‚Poietik‘ handelt, war nach Valéry weniger die zu realisierende ‚Form‘ als vielmehr die ‚Formation‘ des Werkes: jener kunstspezifische Prozess, der „in ein Werk mündet und dafür alle jene physischen Mittel einsetzt, die ihm dienlich sein können“. Dieselbe Wendung, so Valéry weiter, vollziehe auch der Betrachter. Aus der Art und Weise, wie ihm das Werk erscheine, wolle er erschließen, wie es gemacht worden sei. Die Suche danach gehe über die Strukturen des Werkes zurück auf die künstlerische Intention, als deren Spur das Kunstwerk zu verstehen sei. Folgen wir Valérys Gedanken, zeigt ein Kunstwerk dreierlei: erstens ein Produkt, zweitens jenen Prozess, der in das Produkt mündete, und schließlich die Spezifik künstlerischer Produktivität, die sich von außerkünstlerischen Produktionsformen unterscheidet. Kunst wandelt sich, so gesehen, zur Ästhetik und Poetik künstlerischer Produktion. Deren Gelingen liegt nun weniger in der formalen Vollendung (die den Hervorbringungsakt im Kunstwerk weitestmöglich zum Verschwinden bringen möchte), sondern darin, den Akt der ‚Formation‘ mit seinem je besonderen Einsatz ‚physischer Mittel‘ sichtbar zu halten. Dem Kunstwerk wird eine Zeitlichkeit zugebilligt, die diesseits der Formen beginnt und darüber hinausgeht. Es ist nicht festgestellt und nicht feststellbar, sondern ein ‚Moment‘ in einem metamorphotischen Prozess der Verformung und Verwandlung.

Valérys Neufassung der Poetik als ‚Poietik‘ trifft einen entscheidenden Aspekt moderner Kunstentwicklung. Tatsächlich favorisieren die Avantgarden des 19. und 20. Jahrhunderts den Prozess gegenüber dem Produkt, und ihre Formexperimente zielen darauf, die ‚physischen Mittel‘ der Kunst sichtbar werden zu lassen. Die Spannung zwischen Materie und Form wird immer weiter erhöht, bis die beiden Pole in ihrer Gegenstrebigkeit heraustreten und die Formrealisierung als unabgeschlossen oder unabschließbar vorgeführt wird.

Man könnte diesen grundlegenden Wandel an vielen und überdies sehr unterschiedlichen Beispielen zeigen. Keineswegs muss es sich dabei um besonders ‚gestische‘ oder ‚performative‘ Kunstformen handeln. Selbst die konzeptuellen Ansätze, die auf den subjektiven Ausdruck verzichten und eine reine Ideenkunst entwickeln wollten, bezeugen das Primat der ‚Formation‘ über die ‚Form‘, indem sie eine bestimmte ‚Poietik‘ der Produktion entfalten – als deren Vergeistigung oder aber als jener „absurde Nominalismus“, den Rosalind Krauss im seriellen Durchspielen eines bestimmten Konzeptes angelegt sah. Obschon in der Moderne das Handwerk und der Regelkanon, die ein Künstler kennen muss, um Kunst zu machen, immer stärker erodieren, erledigt sich die Frage, wie das jeweilige Kunstwerk gemacht ist, gerade nicht, sondern wird umgekehrt zu seinem entscheidenden Aspekt, nämlich als das augenfälligste Differenzmerkmal. Denn jetzt ergibt sich die in der Vormoderne unbekannte Situation, dass die jeweilige ‚Formation‘ (vom gewählten Konzept über die eingesetzten Materialien bis zur Technik der Ausführung) ebenso spezifisch wird wie die daraus entstehende Form. Seit den klassischen Avantgarden, welche die Materialien und Methoden der Kunst multiplizierten, sicherten sich die Künstler ihre Unverwechselbarkeit häufig weniger durch eine bestimmte stilistische Differenz innerhalb eines bestehenden künstlerischen Verfahrens (beispielsweise der Ölmalerei, oder spezifischer noch, einer einzelnen Gattung, etwa des Stilllebens), sondern vielmehr durch die Entwicklung einer gänzlich neuen Produktionsweise von Kunst, die mitunter einen neuen Kunstbegriff gleich mitproduzierte. Als Beispiele hierfür können etwa Georges Braques und Pablo Picassos Collagen, Marcel Duchamps Readymades oder, in der Nachkriegszeit, Warhols Siebdrucke dienen. In allen diesen Fällen wird der ‚Formationsakt‘ zum eigentlichen ‚Inhalt‘ der Werke. So verdankt sich die Collage der bildontologisch folgenreichen Entscheidung, die Bildfläche nicht nur als Erscheinungsort von Dingen zu begreifen, sondern zugleich als einen materiellen Grund, auf den man etwas kleben kann. Das Readymade wiederum steht für den die Geschichte der Skulptur teilenden und die neue Gattung der Objektkunst mitbegründenden Akt, einen nur minimal modifizierten Alltagsgegenstand zum Kunstwerk zu erklären. Warhols Siebdrucke schließlich bestimmen das Bild als reproduktiv-serielle Inszenierung bereits vorhandener Bilder neu; die Ähnlichkeit zwischen Bild und Gezeigtem beruht hier nicht länger auf der mimetischen Darstellung, so wie es für die traditionelle Kunst gilt, sondern auf der Berührung von Vorbild und Abbild im Augenblick des Druckens.

Die Werkkomplexe Frank Stellas und Claes Oldenburgs, die ich zur genaueren Analyse der Materie/Form-Dynamik herausgreife, entstammen demselben künstlerischen Mikroklima der Stadt New York in den späten 1950er Jahren. Stella und Oldenburg reagierten beide auf die Malerei des Abstrakten Expressionismus, der sich damals auf dem Höhepunkt seiner Durchsetzung befand, und versuchten über ihn hinauszugehen, indem sie eine alternative künstlerische Praxis entwickelten. Allerdings waren ihre Wege dahin so divergent, dass deren Analyse es erlaubt, zwei ganz unterschiedliche Ausprägungen der Materie/Form-Dynamik zu skizzieren.

Frank Stella war eine zentrale Figur im Übergang vom Abstrakten Expressionismus zur Minimal Art, deren regularisierte, geometrische Formensprache in unserem Zusammenhang zunächst kaum einschlägig erscheint. Stella gelang der künstlerische Durchbruch mit den Black Paintings aus den Jahren 1958/59. Nach Stella zielen sie darauf, eine bestimmte Bildidee in der Bildform unmittelbar anschaulich werden zu lassen: „Alles“, so Stella in einem Interview, „was man aus meinen Bildern herausbekommen soll […], ist die Tatsache, dass man die ganze Idee ohne jede Verwirrung sehen kann. … Was man sieht, ist, was man sieht. [‚What you see is what you see. ‚]“

‚Was man sieht‘, so lässt sich Stellas Aussage paraphrasieren, ist eine bestimmte Idee der Bildproduktion. Worin liegt sie? Wie die Atelieraufnahme zeigt, fertigte Stella die Black Paintings, indem er gleichförmige Streifen dichter, unmodulierter schwarzer Farbe mit einem Anstreicherpinsel von entsprechender Breite auftrug und zwischen den Streifen die helle, ungrundierte Leinwand stehen ließ. Er begann außen und malte einen Streifen nach dem anderen, bis die Leinwand vollständig bedeckt war. Die Streifen sind Teile eines Musters und zugleich „Pinselwege auf Leinwand“, wie es Stellas Künstlerkollege Carl Andre formulierte. Den Malakt unterteilte Stella in zwei distinkte Schritte. Er entwarf zunächst einen Bildplan, den er nachfolgend geradlinig und unter Verzicht auf jede bravura, „mit der Technik und dem Werkzeug der Anstreicher“, ausführte. Die Zweiteilung begründete er wie folgt: „Es gibt in der Malerei zwei Probleme. Das eine ist, herauszufinden, was Malerei ist, und das andere ist, wie man ein Bild macht. Das erste ist, etwas zu lernen, das zweite ist, etwas zu machen.“ Stellas Aufspaltung des Malprozesses in einen kognitiven und einen handwerklichen Akt richtete sich gegen eine synthetisch begriffene Malweise, die aufgrund des schon Gemalten fortlaufend entscheidet, wie es weitergehen soll – eine Malweise, wie sie etwa Paul Cézanne perfektionierte. Mit jedem neuen Pinselstrich tarierte Cézanne das Bildgefüge neu aus, um ihm jene schwebende ‚Harmonie‘ zu verleihen, auf die er zielte. Allmählich entstand daraus die ‚Modellierung‘ des Naturraums im Bild, die, wie Cézanne sich ausdrückte, aus der ‚Modulierung‘ der Farbe hervorging. Stella hingegen modifizierte den vorab skizzierten und mit Bleistift auf die Leinwand übertragenen Bildplan während des Malens nicht mehr. Die additiv nebeneinandergesetzten Streifen treiben dem Bild Illusionismus und Plastizität aus, indem sie einen möglichen Tiefenraum gleichsam ausstreichen. Den flächigen Effekt verstärkte Stella durch die Behandlung des ungerahmt belassenen Bildkörpers. Er verwendete dicke, sechs Zentimeter tiefe Keilrahmen, führte aber nur die Leinwand, nicht jedoch die Streifen um die Kanten herum. Somit liegt das Bildmuster augenfällig nur auf der Vorderseite des voluminösen Bildkörpers und erscheint damit, wie Donald Judd bemerkte, wie eine von der Wand abgehobene „Scheibe“. Überdies verband sich die von Stella gewählte Emailfarbe nicht mit der Leinwand, so wie es bei flüssigerer, einsickernder Farbe der Fall gewesen wäre. Vielmehr scheint sie gleichsam vor der Leinwand zu liegen, wodurch sie ihren eigenen (nicht illusionistischen, sondern tatsächlichen) Raum einnimmt. Die Farbe verliert jene Immaterialität, die sie in der älteren Kunst und noch bei Cézanne besitzt und ihr dort erlaubt, für alle Stofflichkeiten, sei es ein Stein, ein Baum oder der Himmel, einstehen zu können. Genau gegenteilig ‚exemplifizieren‘ die Black Paintings die Eigenschaften der Farbe selbst: den matten Glanz, die Dichte oder das Unbunte.

„Ich wollte nicht mit dem Pinsel zeichnen“, so Stella im bereits zitierten Interview. „Ich wollte die Farbe aus der Dose und auf die Leinwand bekommen. Ich kannte einen Angeber, der häufig über meine Bilder spottete, aber auch die Abstrakten Expressionisten nicht leiden konnte. Er sagte, sie wären gute Maler, wenn sie die Farbe nur so gut lassen könnten wie sie in der Dose war. Und genau das versuchte ich zu tun.“

Die ‚physischen Mittel‘ der Malerei vergegenwärtigen die Black Paintings folglich durch zweierlei Maßnahmen: einerseits durch die herausgestellten Materialien der rohen Leinwand und der unverändert belassenen Lackfarbe, andererseits durch eine Malweise, die ein Muster erzeugt, das als ‚Pinselweg‘ zugleich die Spur seiner Herstellung ist.

Obschon Stella deutlich zwischen der ‚Idee‘ und dem ‚Machen‘ eines Bildes unterschied, läuft beides letztlich wieder zusammen: die ‚Idee‘ ist eine ‚Praxis‘, deren Sinn nicht auf einer transzendenten, das Bild übersteigenden Ebene liegt, sondern in der Immanenz des what you see is what you see. Stellas Streifen führen, wie Carl Andre bemerkte, nicht ins Symbolische, sondern „nur in die Malerei“.

Unter den Bedingungen des modernistisch verflachten Bildraums zielte Stellas ‚Praxis‘ auf die Erneuerung dessen, was er ihren „working space“ nannte. Nach Stella besteht das Ziel der Kunst darin, Raum zu schaffen – einen Raum, in dem nicht nur die Dinge, sondern vor allem die Kunst selbst sich entfalten kann. Da Stella den Bildillusionismus der älteren Kunst weder wiederherstellen konnte noch wollte, etablierte er den ‚working space‘ nicht wie die klassisch-illusionistische Malerei hinter der Bildoberfläche, sondern auf ihr: im malenden Durchmessen ihres Gevierts sowie im minimalen Raum zwischen der Leinwandfläche und der Farbdicke.

Die Form dynamisiert sich in den Black Paintings folglich auf zweifache Weise. Zum einen geschieht es durch die Materie/Form-Spannung, die sich zwischen ‚exemplifizierter‘ Dosenfarbe und der Generierung eines abstrakten Musters aufbaut. Sie dynamisiert sich aber auch im Muster selbst. Denn dieses liquidiert das hierarchische Verhältnis von Teil und Ganzem, das für die gesamte Tradition des neuzeitlichen Tafelbildes und selbst noch für Cézanne bestimmend war. Stellas Black Paintings sind rekursive Systeme, in denen die Wiederholung der Elemente die Struktur generiert – wobei es gleichgültig ist, ob man von der Bildfläche ausgeht, welche die Form der Streifen definiert, oder von den Streifen, aus denen sich die Fläche zusammensetzt. Im Bildmuster gehen ‚stasis‘ und ‚dynamis‘ in einer Weise ineinander auf, die für die Minimal Art kennzeichnend werden sollte.

Zur selben Zeit wie Stella seine Black Paintings und ebenfalls in New York entwickelte Claes Oldenburg die Werkgruppe der Ray Guns, die sich formal und konzeptuell kaum stärker von Stellas Gemälden unterscheiden könnten. Stellas regularisierter Bildidee steht ein Werkkomplex gegenüber, dessen Konzept sowie dessen einzelne Objekte Form und Formlosigkeit, Formation und Deformation ineinanderfließen lassen. Den Namen erhielten die Ray Guns, deren Sammlung und Katalogisierung Oldenburg ab 1959 betrieb, von den Laserpistolen, mit denen die Science-Fiction-Helden in den US-amerikanischen Comics seit den 1930er Jahren und später in den entsprechenden Filmen hantierten. Seine Ray Guns sind allerdings keine Hightech-Waffen, sondern lediglich mehr oder minder amorphe Klumpen, die Oldenburg irgendwo auflas, von Dritten erhielt, zuweilen modifizierte (beispielsweise durch Bemalen) oder in seltenen Fällen selbst herstellte. Um in die Sammlung aufgenommen zu werden, mussten sie lediglich das Kriterium erfüllen, dass zwei ungefähr im rechten Winkel zueinander stehende Schenkel zu erahnen waren. Selbst der Dingcharakter war keine zwingende Voraussetzung: Parallel zur Sammlung der gefundenen Objekte legte Oldenburg ab 1976 eine Fotodokumentation an, die solche Ray Guns aufnahm, die für den Transport zu fragil waren oder gar nicht bewegt werden konnten, da es sich um Pfützen, Abdrücke im Asphalt oder Ähnliches handelte. Während in die Sammlung bzw. die Fotodokumentation ausschließlich zweischenklige Objekte aufgenommen wurden, entwarf Oldenburg zugleich eine massive Erweiterung des Objektbereichs, die er in einer Zeichnung von 1979 festhielt. Die Erweiterung erfolgte zunächst dadurch, dass auch Dinge, die nur vorübergehend einen rechten Winkel aufweisen (beispielsweise ein gebeugter Arm), als Ray Gun bestimmt wurden. Darüber hinaus addierte Oldenburg die Grundform von doppelten über vierfache bis zu beliebig komplexen Ray Guns. Angewinkelte Beine, die Ziffer Sieben, Pistolen, gebeugte Arme oder ein Phallus bestimmte er als Simple Ray Gun, als Double Ray Guns hingegen Ventilatoren, Rasensprenger, Hydranten oder Flugzeuge (letzteres als doppelte Verdoppelung). Als Complex and Absurd Ray Guns schließlich nahm er Staubsauger, Handmixer, Außenbordmotoren, Stühle und Betten auf, in welchen die Winkelform mehrfach gespiegelt, gedreht oder auf den Kopf gestellt erschien. Oldenburg schlug sogar vor, seinen Wohnort New York (mit seinen im rechten Winkel aufragenden Wolkenkratzern) in Ray Gun umzubenennen. Damit erweist sich das Ray-Gun-Prinzip als so zentrifugal, dass es auf die gesamte Welt ausgreift. Die Ordnung der Ray Guns schlägt in eine Anti-Ordnung um, die jegliche Unterscheidung, beispielsweise nach hoch/niedrig, belebt/unbelebt, Natur/Kultur oder Fragment/Ganzheit unterläuft. Über die Teilhabe an der (Nicht-)Kategorie Ray Gun verwandelt sich potenziell alles in alles: ein Arm in eine Zigarettenkippe, in eine Pistole, in einen Stuhl, in ein Flugzeug, … in New York. Die Verwandlung ineinander vollzieht sich dabei als spezifische räumliche Operation: als Verkleinerung (New Yorks), Vergrößerung (der Zigarettenkippe), Drehung (des Stuhls) oder Abspreizen (des Arms).

Die Metamorphose, welche die Ray Guns entfalten, bildete für Oldenburg zugleich das eigentliche Prinzip der Kunst. Das Herstellen von Vergleichen, die der logischen Begründung entbehrten, bilde eine Art von Poesie, die keinerlei Sinn habe – außer in der Kunst. Die Bestimmung der Kunst als ‚Herstellen von Vergleichen‘ begreift den Akt der ‚Formation‘ als Schwebezustand zwischen Machen und Finden. Ob die Qualität, Ray Gun zu sein, in den Dingen oder vielmehr in Oldenburgs Zuschreibung liegt, bleibt unentscheidbar. Im Augenblick der Verwandlung in ein Ray Gun berühren sich Objekt und Subjekt, Welt und Wahrnehmung. Ein Aspektwechsel findet statt, bei dem sich etwas in ein anderes verwandelt – bei gleichbleibendem physikalischem Objekt. Es handelt sich um einen paradoxen Vorgang, bei dem sich die neue und die unveränderte Wahrnehmung des Objektes überlagern. Wie schon bei Clyfford Stills ungegenständlicher Malerei zeigt sich die Formdynamik als Dynamik eines Aspektwechsels. Während er bei Still darüber entscheidet, welcher ‚Inhalt‘ in der ‚Form‘ aufscheint, betrifft er hier die Frage, ob die ‚Materie‘ überhaupt ‚Form‘ und das Ding den Status eines Artefakts besitzt.

Den ereignishaften Augenblick, in dem etwas in ein anderes umschlägt, bestimmte Oldenburg als einen Augenblick „erhöhter Sensibilität“. Diese Sensibilität werde, so hoffte er, den Begriff der Kunst zerstören und den Objekten ihre Kraft zurückgeben. Die Magie, die dem Universum innewohne, würde wiederhergestellt sein und die Menschen in sympathetischem religiösem Austausch mit den sie umgebenden Dingen stehen. „Sie [die Menschen, ML] werden sich nicht mehr von ihnen geschieden fühlen, und das Schisma zwischen beseelt und unbeseelt wird aufgehoben sein.“ Negativ zielte Oldenburgs ‚totale Analogisierung‘ also darauf, die Ordnung der Dinge kollabieren zu lassen, positiv aber darauf, eine neuartige Einheit zwischen den Dingen sowie zwischen Mensch und Ding zu stiften. Obschon sich in Oldenburgs Unternehmung die Entformung der Form und die Formwerdung des Unförmigen wechselseitig voraussetzten, zeigen Oldenburgs Worte, dass er nicht dem Pol absoluter Unförmigkeit zustrebte, sondern vielmehr die Vision einer Form entwickelte, die eine universale Teilhabe zu stiften vermag. Alles, was das minimale Formprinzip des ‚universalen rechten Winkels‘ auch nur annähernd aufwies, wurde aufgenommen, und alle diejenigen treten in ‚sympathetischen Austausch‘ mit diesen Objekten, die darin jene basale Formqualität zu entdecken wissen. Indem die Dinge Ray Gun werden, gewinnen sie Form, und indem sie Form gewinnen, werden sie Ray Gun – ein Umschlag, der den Künstler wie auch den Betrachter einschließt, da sie es sind, die ihn vollziehen.

Damit ist auch der Abstand zu Georges Batailles (Anti-)Begriff des ‚informe‘ markiert, mit dem die Ray Guns in Zusammenhang gebracht worden sind. Oldenburgs Ray Gun ist Batailles ‚informe‘-Begriff darin nahe, eine Kategorie zu entwerfen, die eine ordnungs- und klassifikationszersetzende Kraft freisetzen sollte. Sowohl Bataille als auch Oldenburg setzten dabei auf die Subversion der Differenz- und Bestimmungsqualitäten der Form. Entsprechend suchte Bataille nach einem Begriff, der, wie er es formulierte, „zur Deklassierung des allgemeinen Anspruchs dient […], dass jedes Ding seine Form habe“. Der entscheidende Unterschied liegt nun aber im Resultat der formzersetzenden Aktivität. Während Bataille die Behauptung aufstellte, „dass das Universum nichts gleicht und reine Formlosigkeit ist“, versuchte Oldenburgs Ray-Gun-Projekt aufzuweisen, dass alles allem gleicht – und zwar aufgrund der Ähnlichkeit in der Form. Holzschnittartig formuliert, steht Batailles Kampfbegriff des ‚informe‘ im Zeichen des Zerreißens und des Todes, Oldenburgs animistischer Universalismus hingegen im Zeichen des Zusammenführens und des Lebens: „Der Slogan von RAYGUN ist ‚vernichte-erleuchte‘ [‚annihilate-illuminate‘]. RAYGUN ist zugleich destruktiv und kreativ.“

Mit dem poetisch-metamorphotischen Verfahren der Ray Guns vollzog Oldenburg eine radikale Neubestimmung künstlerischer ‚Formation‘. Was er in erster Linie zu finden hatte, war eine Form, welche die Transformationsdynamik der Objekte in Gang setzte – mit anderen Worten: eine Form, die den Aspektwechsel ermöglichte, ja mehr noch, ihn produzierte. Oldenburgs Lösung bestand darin, den Akt der ‚Formation‘, mit Ausnahme der wenigen selbst hergestellten oder modifizierten Ray Guns, von der Objektgestaltung abzuziehen und auf die Aktivität des Sammelns und Archivierens zu verlagern. Indem er sich hauptsächlich um Vitrinen und Kästen, Fotodokumentationen und Registernummern kümmerte, überließ er die Objekte der Eigendynamik ihres Schillerns zwischen ‚Gemachtem‘ und ‚Gefundenem‘, formloser Materie und Artefakt. Schillernd war somit auch Oldenburgs eigene Tätigkeit. Denn einerseits schien es, als wolle er in die Genese der Ray Guns, also in jenen Umschlag in ein qualifiziertes Objekt, nicht eingreifen, sondern ihn lediglich geschehen lassen. Doch andererseits waren es nicht einfach die intrinsischen Qualitäten der Objekte, die zum Umschlag führten. Vielmehr geschah dies häufig erst aufgrund von Oldenburgs Zusammenstellung. Erst im Vergleich untereinander, den die Gruppenpräsentation provoziert, wird an manchem Klumpen jener halbwegs rechte Winkel erkennbar, der ihn als Ray Gun qualifiziert. Dem Schillern der Objekte zwischen Formlosigkeit und Form entspricht somit das Schillern von Oldenburgs Tun, das die Ray Guns zugleich fand und machte.

Form hervorzubringen, so Oldenburg, sei der einzige menschliche Akt, der überhaupt Konsequenzen habe. Dieser Akt, der mit der Kunst gleichzusetzen sei, könne viele Gestalten annehmen – auch solche, die bislang noch nicht durch den Namen der Kunst geehrt worden seien. Wie Oldenburgs Rede von den noch nicht legitimierten künstlerischen Formen verdeutlicht, wird Kunst zu einem fortlaufenden Ausloten der Möglichkeitsbedingungen künstlerischer Form. Dies aber gilt nicht nur für Oldenburg, sondern für alle hier diskutierten Beispiele. Es ist das Prinzip der modernen Kunst.

Einleitung
Kapitel I: Form/Inhalt: Die Dynamisierung der Kunst als Kommunikat
Punkt Kapitel II: Materie/Form: Die Dynamisierung des Kunstwerks als Artefakt
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