Mauricio Dias Walter Riedweg Devotionalia

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Strassenkinder im Museum. Betrachtungen zu Kunst und Moral: Das Projekt „Devotionalia“

in: ZeitSchrift/Reformatio, Jg. 46, Nr. 1, Februar 1997 (Sondernummer „Moralismus“), S. 55-63.

Kapitel 2: Das „Devotionalia“-Projekt

Zwischen August und Dezember 1995 arbeiten die beiden Basler Künstler Mauricio Dias und Walter Stephan Riedweg in den Favelas von Rio de Janeiro mit Strassenkindern an ihrem Kunstprojekt „Devotionalia“. Sie stellen mit einfachen Mittlen Wachsabgüsse von deren Händen und Füssen her. Währenddessen fragen sie die Kinder und Jugendlichen nach ihrem Leben, und zum Schluss dürfen diese einen Wunsch äussern. Der ganze Prozess wird auf Video festgehalten. Über Tausend Wachshände und -füsse, auf dem Boden ausgelegt, sowie ein Zusammenschnitt der Videos, auf mehreren Monitoren simultan zu sehen, bilden das zur Ausstellung aufbereitete Resultat der Aktion, das 1996/97 zunächst in Rio selbst und anschliessend in Genf, Basel, Luzern und Den Haag gezeigt wird. Während der europäischen Stationen finden Workshops mit Schülern und Schülerinnen der betreffenden Städte statt; auch sie werden auf Video aufgezeichnet. Die hiesigen Reaktionen sollen, so die weitere Planung, in einer der Favelas von Rio vorgeführt und schliesslich das ganze Konvolut mit seinen brasilianischen und schweizerisch-holländischen Teilen im Kongresshaus der Hauptstadt Brasilia hinterlegt werden. Erklärtermassen geht es den beiden Künstlern um eine an die Gesellschaft gerichtete Botschaft und um eine Neubestimmung der Rolle der Kunst in der Öffentlichkeit. „Devotionalia“ gehört zu einer vor allem in den USA erfolgreichen künstlerischen Strömung, der sogenannten „New Genre Public Art“. Eine ihrer wichtigsten Promotorinnen, die freie Kuratorin Mary Jane Jacobs, schreibt in einem Beitrag zu „Devotionalia“: „‚New Genre Public Art‘ ist Kunst mit einer Bedeutung, die sich aus dem Leben der Menschen heraus entwickelt und selbst wiederum Teil dieses Lebens wird; es ist Kunst, die für das Publikum wichtig ist, weil sie reale Bezüge herstellt. … Das Publikum, als Partner dieser Kunst, ist bereit. Es findet sich in Organisationen ausserhalb des Kunst-Welt-Systems. Diese Menschen schätzen die Brauchbarkeit … von Kunst als Ergänzung ihrer eigenen Aktivitäten.“ Offensichtlich handelt es sich hier um einen Versuch, Kunst und Leben zu versöhnen und die beargwöhnte Autonomie der Kunst zu überwinden, von denen zu Beginn die Rede war.

Bei der Konstruktion der Botschaft von „Devotionalia“ sind vor allem zwei Sinnebenen im Spiel: Religion und Kunst. Beide sind vermittelt durch das Moment der Repräsentation. Dias und Riedweg greifen die archaische und vom Christentum adaptierte Tradition einer bestimmten Form von Exvotos auf. Hierbei repräsentiert ein beim (Stand)Bild eines Heiligen angebrachtes Abbild eines Körperteils den realen Körperteil am Leib des Gebers. Zugleich repräsentiert es den ganzen Vorgang des Gelöbnisses, in dem für die Gabe des Heiligen, normalerweise die Heilung des Körperteils, die Gegengabe des Exvotos versprochen wird. Bei „Devotionalia“ repräsentieren die Wachsabgüsse die Kinder der Favelas und gleichzeitig den gesamten Arbeitsprozess, den die Künstler mit den Kindern vollzogen haben und in dessen Verlauf diese ihren Abguss mit einem Wunsch verbinden konnten. Auch die zweite Ebene des Werks, die Kunst, definiert sich über Repräsentation: Ein Kunstwerk bedeutet etwas ausserhalb seiner selbst und vergegenwärtigt es zugleich, wobei dieses „etwas“ ganz unterschiedliches sein kann – ein Aspekt der Wirklichkeit, eine Empfindung oder auch ein innerkünstlerisches Formproblem. Die Analogie der Repräsentationssysteme des Exvotos und der Kunst nutzen Dias und Riedweg für die gezielte Vermischung der Sphären von Kunst und Religion. Daraus soll, so die beiden in einem Begleittext, ein Verpflichtungszusammenhang entstehen. Indem sie „die Metapher des Exvotos aus dem sakralen in den öffentlichen Raum“ trügen, versuchten sie der Gesellschaft „die Rolle der Schicksalsmacht zurückzugeben“.

Eine Dramaturgie des Als-Ob

Im Gegensatz zu den beiden Künstlern sehe ich in der Sphärenvermischung jedoch nicht die Dichte und Stärke der Arbeit, sondern den künstlerischen Mangel wie auch die moralische Fragwürdigkeit. Die Plastik kennt einen Grenzfall der Abbildlichkeit, den sie als ihr eigentliches Tabu begreift: den direkten Abguss vom lebenden Körper, die sogenannte Moulage. Er gilt in mehrfacher Hinsicht als unkünstlerisch. Nichts ist leichter als dieser zwangsläufig gelingende Abbild-Naturalismus, der zur Plastik steht wie die Knips-Fotografie zur Malerei. Vor allem aber besteht das entscheidende künstlerische Vermögen der Plastik darin, totes Material „lebendig“ erscheinen zu lassen; man erinnere sich diesbezüglich an den Mythos Pygmalions. Die Moulage hingegen vollzieht genau das Gegenteil, nämlich die Transformation des lebendigen Körpers in sein totes Konterfei. Vom Künstlerisch-Plastischen her beurteilt sind die Wachsabgüsse von „Devotionalia“ daher ohne Wert. Das mag auch den Künstlern bewusst gewesen sein, denn sie greifen auf ein aus den sechziger Jahren bekanntes Stilmittel zurück, um den Körperteilen das Aussehen von Kunst zu verleihen: Sie ordnen sie in einem strengen Rechteck an, sodass der Eindruck entsteht, es handle sich um ein Werk des Land-Art-Künstlers Richard Long oder um Minimal Art. Deren Ästhetik aber ist „Devotionalia“ so fremd, dass die formale Anleihe aufgesetzt und peinlich wirkt. Ähnliches gilt für die Videos, die auf jegliche künstlerische Bearbeitung verzichten und von einer journalistischen Reportage formal nicht zu unterscheiden sind. Folglich ist die Simultan-Präsentation auf mehreren Monitoren ästhetisch nicht plausibel, ausser dass auch solches an „Kunst“, diesmal an eingeübte Gepflogenheiten der Video-Kunst, anzuknüpfen sucht. Wenn man auf diese Weise kunstkritisch argumentiert, ist der Einwand vorauszusehen, der formalanalytische Zugang sei verkürzend und sperre die eigentliche Dimension der Arbeit, die religiöse Metaphorik und den sozialkritischen Apell, aus. Also wechsle ich auf diese Sinnebene der Arbeit, erlaube mir auch hier, sie beim Wort zu nehmen.

Die Form des Exvotos, auf die sich Dias und Riedweg beziehen, repräsentiert einen komplexen Vorgang, in dem eine Art magischer Handel abgeschlossen wird. Die eine Partei, der Gläubige, gelobt dabei der anderen Seite, dem Heiligen, ihm einen Gegenstand zu geben, um als Gegenleistung Heilung oder Rettung zu erfahren. Dieser Gegenstand, das Exvoto, kann sowohl nach erfolgter Heilung dargebracht werden, um in Dankbarkeit dem Gelübde zu entsprechen, oder aber bereits vor der Heilung beim Bild des Heiligen angebracht werden, um ihn zu verpflichten, die Gegengabe der Heilung auch wirklich zu gewähren. Entscheidend für den Erfolg des Handels ist die Bindungskraft des Gelübdes, also die Verpflichtung zur Erfüllung seines Inhalts. Als Legitimationsinstanz wirkt die seit archaischer Zeit bestehende und in den christlichen Heiligenkult integrierte rituelle Tradition. Bei „Devotionalia“ nun geben die Kinder Abbilder ihre Hände und Füsse als Repräsentanten ihrer selbst, und sie dürfen diese Gabe – vor protokollierender Kamera – mit einem Wunsch an die Gesellschaft verbinden. Die Mehrzahl, vor allem junge Mütter, wünscht sich ein Haus; uma casa ist gleichsam der Refrain der Interviews. Doch an wen richten sich die Wünsche? Wer ist die Gesellschaft? Wir hier in Basel (Genf, Luzern, Den Haag)? Die Politiker in Brasilia, denen die Arbeit am Ende des Projektes übergeben wird? Die internationale Staatengemeinschaft? Oder einfach alle zusammen? Und wie steht es um die Dimension des Handels, der beim Exvoto unter dem Gelübde steht, das einem mit Haut und Haar bindet? Binden sich die beiden Künstler? Bindet sich die Gesellschaft? Fühlt sich jemand verantwortlich für das herbeigesehnte Haus? Und wer ist die Legitimationsinstanz für den gesamten Vorgang? An dieser Stelle wird man einwenden, das dürfe doch nicht so wörtlich genommen werden, sondern sei nur symbolisch gemeint; es handle sich doch nicht wirklich um einen religiös-magischen Akt, sondern um Kunst. Damit ergibt sich eine fatale Oszillation: Frage ich nach der Kunst und stosse auf qualitative Mängel, werde ich auf die religiöse Symbolik verwiesen. Und wenn ich nach dieser frage und deren Verbindlichkeit vermisse, werde ich wieder auf die Ebene der Kunst zurückverwiesen. Das aber bedeutet nicht eine produktive Bedeutungsübertragung zwischen Kunst und Religion, sondern im Gegenteil die gegenseitige Entpflichtung ins Ungefähre des Als-Ob.

Unmoralischer Moralismus

Dass es sich bei „Devotionalia“ um Kunst handelt, bildet das eigentliche Problem des Projekts. Die Autonomie der Kunst, die es Dias und Riedweg erlaubt, ohne tiefere Einbindung in die dortigen Verhältnisse in die Tabuzonen einzudringen, gibt ihnen auch die Freiheit, wieder zu gehen, sobald sie für ihr Kunstwerk genügend Material gesammelt haben. Zu einem wirklichen Ergebnis gelangen sie allein in der Kunst – das Ergebnis können wir besichtigen -, doch an Ort und Stelle hat sich nichts verändert, geschweige denn verbessert. Eingedenk der Unfreiheit der sozialen Situation, die sich die beiden Künstler als „Rohstoff“ ihres Kunstwerks gewählt haben, und angesichts des Anspruchs, zu einer neuen Verantwortung der Kunst zu gelangen, wird hier, im spezifischen Falle von „Devotionalia“, die Autonomie und die lebenspraktische Folgenlosigkeit der Kunst zum Skandal. Denn auch hinsichtlich der Verantwortung befinden wir uns im Bereich der Repräsentation: „Devotionalia“ ist bloss repräsentierte Verantwortung, was einem Umschlag ins Gegenteil gleichkommt.

Zudem sticht ins Auge, wie wenig Ungesehenes und Ungehörtes die Arbeit kommuniziert. Die Fragen, die Dias und Riedweg den Kindern stellen – Wie kamst du hierhin? Wovon lebst Du? Hast du schon Gewalt erlebt? -, eröffnen nur ein weiteres Mal die Welt, die wir aus zahlreichen Kampagnen bereits ausreichend kennen. Ähnliches gilt für die Ästhetik der Arbeit, die im Überstülpen von konventionell gewordenen und zudem unpassenden künstlerischen Formen über Nicht-Künstlerisches (Moulage/Reportage) besteht. Damit können sich die Reaktionen der Betrachter nur im Rahmen der üblichen Betroffenheitskultur bewegen: Die Not ist erschütternd, das Wohlstandsgefälle unmoralisch, und immer sind es die Kinder und Mütter, die es am härtesten und unverdientesten trifft, usw. Die Konventionalität der Botschaft wie auch der erzielten Reaktion bewirkt, dass wir die Arbeit folgenlos vergessen, denn auch helfen wollten wir schon immer, und schon immer wussten wir nicht wie.

Im Video kommt ein Sozialarbeiter zu Wort, der von der Schwierigkeit spricht, den Mut nicht zu verlieren. Er arbeitet im Verborgenen, und leise klagt er darüber, dass seine nie endende, sisyphusgleiche Arbeit kaum gewürdigt wird. Dias und Riedweg sind erfolgreicher als er. Sie haben den Weg ins Rampenlicht der (Kunst-)Öffentlichkeit gefunden, ihre Arbeit wird weitherum stark beachtet. Angesichts dieses Missverhältnisses, was die Relation von Aufmerksamkeit und effektivem Nutzen betrifft, wird das Verhältnis von Kunst und Moral in diesem Projekt selbst zum moralischen Problem.

Kapitel I: Kunst und Moral
Straßenkinder Punkt Kapitel II: Das „Devotionalia“-Projekt
Straßenkinder Pfeil Kapitel III: Einige Folgerungen
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