Rhetorik Rede Kunst Simultaneität Sukzession

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Wahrscheinlichkeit. Zur Rhetorik der Kunst

in: Daidalos 64, Juni 1997 (Sondernummer „Rhetorik), S. 80-89.

Abschnitt V

Es gibt jedoch eine Grenze der Analogie von rhetorischer und künstlerischer Wahrscheinlichkeitserzeugung, die uns das spezifisch Bildnerische an der Kunst genauer zu fassen erlaubt. Die Differenz, um die es geht, läßt sich mit dem Begriffspaar Simultanität und Sukzession benennen. Nach der antiken Rhetoriklehre entfaltet sich die Rede sukzessiv in verschiedenen Stadien. Zunächst wird ein Thema bestimmt und der entsprechende Sachverhalt erzählt (exordium und narratio), dann folgt die Argumentation und Beweisführung, in der die gegnerischen Argumente widerlegt und die eigenen stark gemacht werden (argumentatio), und schließlich der Redeschluß (conclusio). Diese Einteilung hat, wie die Mehrzahl der politischen Reden oder auch der wissenschaflichen Vorträge zeigt, noch heute Gültigkeit. Die Abfolge erlaubt es dem Zuhörer, zwischen der Sache, um die es geht (res), und dem Argument, das der Redner vorbringt (argumentum), zu unterscheiden, wobei die rhetorische Kunst darin besteht, im Redeverlauf eine zwingende Verbindung zwischen ihnen aufzubauen. Diesen sukzessiven Prozeß vollzieht das Kunstwerk nicht. Die Sache (z.B. „Natur“) ist im Kunstwerk immer schon in die jeweilige Form gebracht. Sie erscheint nur nach Maßgabe der Art und Weise, wie das Kunstwerk sie zeigt. An den vier Naturdarstellungen haben wir das verfolgen können. Es gilt in gleichem Maße auch für die Plastik. Michelangelos Sieger, Berninis Hl. Theresa, Rodins Schreitender oder Giacomettis Büste Elie Lotars zeigen nicht einen Sachverhalt („Mensch“), der zunächst einmal wahrgenommen werden könnte, und der dann, einer Gliederpuppe gleich, in eine bestimmte Gestalt überführt würde, so wie der Redner die Perspektivierung seines Redethemas allmählich herausarbeitet. Das Abstraktum „Mensch“ und die individuelle Gestalt der Skulptur fallen in eins, sie gehen eine unlösbare Verbindung ein. Ein Bild oder eine Skulptur „sehen“ heißt, in ein und demselben Augenblick die „Sache“ und die spezifische Gestalt, „res“ und „argumentum“, zu sehen. Diese Konvergenz, in der sich etwas als etwas zeigt, ist gemeint, wenn man von der „Präsenz“ und der „Unmittelbarkeit“ der Kunst spricht. Wahrscheinlich ist das die Stelle, wo wir der spezifisch künstlerischen Rhetorik als ihrer spezifischen Form der Überzeugungskraft am nächsten kommen: wo es der Kunst im Augenblick der Betrachtung gelingt, jede Trennung aufzuheben und uns die „Welt“ als so beschaffen zu zeigen, wie das Kunstwerk sie formuliert. Diese Umkehrung ist der Triumph der Kunst, in der das Fiktive über das Reale siegt.

Abschnitt I
Abschnitt II
Abschnitt III
Abschnitt IV
Punkt Abschnitt V
Pfeil Abschnitt VI
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