Edgar Degas Tanz Landschaften Spätwerk

Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten in Edgar Degas’ Werkprozess

in: Logik der Bilder. Präsenz – Repräsentation – Erkenntnis. Gottfried Boehm zum 60. Geburtstag, hrsg. von Richard Hoppe-Sailer, Claus Volkenandt und Gundolf Winter, Berlin 2005, S. 35-51.

Kapitel II: „Le vague“

Der Tanz, schreibt Alain Badiou in seinem kleinen Buch zur Ästhetik der verschiedenen Künste, ist wie ein Kreis im Raum, ein Kreis jedoch, der sein eigenes Prinzip ist, indem er nicht von außen gezeichnet wird, sondern sich selbst zeichnet. Der Tanz, so Badiou weiter, ist eine erste Bewegung: Jede Geste, jeder Bewegungsverlauf erscheint nicht als Folgewirkung von etwas, sondern als Ursprung der Beweglichkeit selbst. Der tanzende Körper drückt dabei keinerlei Innerlichkeit aus, vielmehr ist er selbst die Innerlichkeit, die, ganz an der Oberfläche, als Intensität erscheint. Ein derartiger Körper ist notwendigerweise nackt. Es ist nicht wichtig, präzisiert Badiou, ob er es in empirischer Hinsicht ist. Unter Nacktheit ist zu verstehen, dass der Tanz sich auf nichts anderes bezieht als auf sich selbst, in der Nacktheit seines Auftauchens.
Badious Ausführungen sind ein erster Hinweis darauf, was hier an einigen von Degas‘ Bildern gezeigt werden soll, um auf die einleitend gestellten Fragen eine Antwort zu suchen. Obschon diese Ausführungen, die an Mallarmés und Valérys Gedanken über den Tanz anschließen, den Künstler an keiner Stelle erwähnen, charakterisieren sie nicht nur die Tanzkunst, sondern zugleich Degas‘ zeichnerische und malerische Praxis, diese ins Bild zu setzen. Indem sich Badiou überdies weniger für die konkrete theatralische Praxis des Balletts interessiert als vielmehr für den Tanz als eine Bewegungs- und Denkform, lassen seine Formulierungen nicht nur an Degas‘ Tänzerinnen-Bilder denken, sondern zugleich auch an andere Motive, insbesondere an die sich waschenden und kämmenden Frauen. Denn das Verbindende unter Degas‘ Sujets ist tatsächlich das Moment einer selbstbezüglichen, in sich zurücklaufenden Bewegung. Ruhende Posen gibt es, mit Ausnahme der Porträts, in seinem Œuvre kaum. So führt auch die Landschaft, die bei den Impressionisten eine entscheidende Rolle spielt, nur ein Nebendasein – allerdings mit bemerkenswerten Ergebnissen. Selbst da aber interessiert ihn in erster Linie deren Lebendigkeit:
„Wenn die Blätter der Bäume sich nicht bewegten“, schreibt er in einem Brief an Henri Rouart, „wie traurig wären die Bäume, und auch wir! […] Es ist die Bewegung der Dinge und der Menschen, die zerstreut und sogar tröstet, wenn ein so Unglücklicher überhaupt getröstet werden kann.“
Bewegung und ästhetische Lust gehen für Degas Hand in Hand. Das Beispiel der flirrenden Blätter, die ihm tröstende Zerstreuung bringen, verweist zudem auf den Zusammenhang zwischen Anmut, Unbestimmtheit und Versunkenheit, wie er im italienischen vago zum Ausdruck kommt. Bezeichnend hierfür ist ein von Daniel Halévy in seinem Tagebuch aufgezeichneter Wortwechsel über die Serie von Landschaftsmonotypien, die in den 1890er Jahren in Erinnerung an eine Fahrt durch das herbstliche Burgund entstehen:
„Ich saß bei der Wagentür“, so Degas in Halévys Aufzeichnung, „und schaute unbestimmt [vaguement]. Das hat mich auf den Gedanken gebracht, Landschaften zu machen. Es sind einundzwanzig.‘ – ‚Was? Sehr unbestimmte Sachen [des choses très vagues]?‘ – ‚Vielleicht.‘ – ‚Seelenzustände?‘ fragte mein Vater. […] – ‚Augenzustände‘, antwortete Degas.“
Nach gängiger Auffassung setzt Degas‘ Spätwerk nach der letzten Impressionisten- Ausstellung 1886 ein, auf der Degas noch einmal mit zahlreichen Arbeiten vertreten ist, um fortan auf die Zurschaustellung seiner Werke fast durchwegs zu verzichten. Zu Recht wird das Spätwerk als Radikalisierung des bisherigen Œuvres beschrieben, insbesondere weil es sich auf ganz wenige Themen und Motive konzentriert, diese allerdings dutzend-, ja hundertfach wiederholt und variiert. Worin aber besteht die Radikalisierung innerhalb der Bearbeitung des Motivs, also innerhalb des einzelnen Bildes? Um eine noch perfektere Wiedergabe im Sinne naturalistischer Korrektheit geht es offensichtlich nicht. Diesbezüglich wären sogar nur Rückschritte zu vermelden, da eine der Eigentümlichkeiten des Spätwerks eben jenes angesprochene Vage ist. Was die Bilder zeigen, der Ort und selbst die Protagonistinnen, verschwimmen in einer irritierenden Unschärfe der Darstellung. Trotz der gesteigerten, ja betörenden Leuchtkraft, die Degas‘ Bilder jetzt erreichen, gibt es ein Negatives, welches das Sichtbare affiziert und die Lesbarkeit irritiert. Vergleichen wir dafür zwei Gemälde (Abb. 1 und 2), die sich vom Sujet her nahe stehen, aber im Abstand von fast dreißig Jahren entstanden sind. Das erste Bild, das zu Degas‘ frühesten Tanzbildern gehört, ist exemplarisch für das, was schon den Zeitgenossen an Degas‘ damaligen Arbeiten auffällt: die asymmetrischen Kompositionen, die diskontinuierlichen Räume, die ungewohnten Blickpunkte und seltsamen Posen der Dargestellten sowie das neuartige Verhältnis von Betrachter und Bild. Der Raum ist zugleich breit und tief, nach Vorder-, Mittel- und Hintergrund klar strukturiert, und alles, was er enthält, wird präzise geschildert, die hohen Türen und schlanken Spiegel, die Weite des Tanzbodens und die Nacktheit der Wände. Die Ballerinen werden nach Kostüm, Haarfarbe und Pose sorgfältig unterschieden, und die Bilderzählung durch Details wie die Gießkanne bereichert, die zum regelmäßigen Befeuchten des Bodens diente. Als Interieur-Bild ist die kleine Tafel, die ganze 19,7 x 27 cm misst, auf größtmögliche Information hin angelegt, als Genre-Bild einer Tanzstunde zielt sie auf eine möglichst variantenreiche Narration. Das späte, gegen 1900 entstandene Gemälde zeigt im Mittelpunkt eine Tänzerin, die in ihrer Pose von der zentral gesetzten Ballerina des früheren Bildes abzustammen scheint, und auch die asymmetrische Komposition, der abgewinkelte Raum und die seitliche Positionierung einer Tänzerinnen-Gruppe sind vergleichbar. Doch in ihrer Erscheinungsweise unterscheiden sich die beiden Bilder grundlegend. Degas schließt näher zu den Figuren auf, welche jetzt die ganze Bildhöhe einnehmen. Der Raum verknappt sich, in der Breite, vor allem aber in der Tiefe. Das Pfefferminzgrün, das im früheren Bild als lokale Schattenfarbe eingesetzt wird, wandelt sich zum Träger eines irisierenden Lichts, das sich über ganzen Raum verteilt und zugleich dessen Tiefe aufsaugt, da es sich keiner bestimmbaren Beleuchtungsquelle verdankt, sondern mit der Materialität der Farbe verschmilzt. Ob hier trainiert, ausgeruht oder wirklich getanzt wird, lässt sich ebenso wenig bestimmen wie die Gesichtszüge der Tänzerinnen, deren silberweiß schimmernde Körper ineinander fließen. Das Weglassen der Möbel und aller weiterer Details, an denen das frühere Bild so reich ist, verstärkt die Ambiguität von Raum und Situation. Sie führt unter anderem dazu, dass die leicht gespenstische Öffnung auf der linken Seite erst im Vergleich mit dem früheren Bild als Spiegel und der weiße Farbfleck darin als gespiegeltes Tutu erkennbar wird. Gemessen an der Erzählfreudigkeit des früheren Bildes stellt sich eine gewisse Enttäuschung ein: Das Bild vermittelt den Eindmck, dass es, zumindest auf der Gegenstandsebene, nicht viel zu sehen gibt. Drei Unschärfen verbinden sich: die zeichnerisch-malerische, durch die ein Formloses die Form streift und ein Opakes die Transparenz angreift, sodann die situative, die Raum, Zeit und Handlung verschwimmen lässt, und schließlich die physiognomische, die jede Innerlichkeit ausschließt und die Figuren ins Unpersönliche gleiten lässt. Der im früheren Bild überraschend und augenblickshaft inszenierte Raum verwandelt sich in einen Gedächtnisort, der gesättigt wirkt von den überreichen, sich überlagernden Erinnerungen, die Degas in jahrzehntelanger Arbeit am Motiv aufhäufte. Das Vage dürfte folglich als Chiffre für ein Schweben aufzufassen sein – für ein Schweben zwischen innen und außen, Erinnerung und Sehen, das auf keine Seite hin aufgelöst werden kann, sondern an den Betrachter weitergegeben wird.
Dieselbe Unbestimmtheit kennzeichnet auch die Bilder sich waschender und trocknender Frauen (Farbabb. 5 und Abb. 3). Auch hier steht sie mit der Materialität des Mediums in unmittelbarem Bezug, sei es mit der peinture à l’essence, einer mit Terpentin stark verflüssigten Ölmalerei, sei es mit der porösen, ebenso weichen wie zerfurchenden Qualität der Pastellkreide. Erneut treffen wir auf anonymisierte Figuren, die auch dann gesichtslos bleiben, wenn sie sich nicht vom Betrachter abwenden, wie es die Regel ist. Gewiss sind Handlungen des Waschens, Trocknens und Kämmens erkennbar, doch sie werden kaum als Momente einer Erzählung kenntlich, sondern erscheinen losgelöst von Absicht und Ziel. Die Bewegung verdichtet sich zum „Ursprung der Beweglichkeit“, zur „Bewegung in der Nacktheit ihres Auftauchens“, wie sie Badiou in der Tanzkunst erkennt. Da das Bild sehr nahe zum Modell aufschließt, verknappt sich der Bildraum aufs Äußerste. Die malerische, situative und physiognomische Unbestimmtheit gewinnt hier den Zug, als müsse sie die radikale Intimität der Bilder ausgleichen: sie dadurch erträglich machen, dass sie uns das Dargestellte nicht nur zeigt, sondern im selben Zuge entzieht.

Kapitel I: Einleitung
punkt Kapitel II: „Le vague“
Edgar Degas - Pfeil Kapitel III: Bild und Bewegung
Kapitel IV: Sehen und Berühren
Kapitel V: Die Metonymie des künstlerischen Aktes
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